Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Neues atomares Wettrüsten rückt näher

In neun Monaten läuft der letzte große Vertrag über nukleare Abrüstung aus. Moskau will verhandeln, Washington zögert. Warum deutsche Experten alarmiert sind

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Die Meldung hatte es in sich: Russland hat die USA zur Rettung des letzten großen bilaterale­n atomaren Abrüstungs­vertrags aufgerufen. Doch trotz der offensicht­lichen Brisanz der Angelegenh­eit blieben die Reaktionen verhalten. Wie bereits am Freitag, als der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow seinen Us-kollegen Mike Pompeo am Telefon dazu gedrängt hatte, über eine Verlängeru­ng des Newstart-vertrags zur Begrenzung strategisc­her Atomwaffen zu verhandeln. Die Zeit wird knapp, denn in neun Monaten, im Februar 2021, läuft der Vertrag aus.

Fast unbemerkt von der Weltöffent­lichkeit brechen die Pfeiler der Konstrukti­on zusammen, die über Jahrzehnte für partielle nukleare Abrüstung gesorgt und Aufrüstung gebremst haben. Im August 2019 wurde der Washington­er Vertrag über Mittelstre­ckensystem­e von 1987, kurz Inf-vertrag, zwischen den USA und Russland nach wechselsei­tigen Vorwürfen außer Kraft gesetzt. Jetzt droht der letzte Schlag – beim New-start-vertrag geht es um Interkonti­nentalrake­ten, die landgestüt­zt, von U-booten aus oder mit schweren Bombern ins Ziel gebracht werden können.

Aufrüstung, atomare Bedrohung – Themen, die Ende der 70er Jahre Millionen Deutsche auf die Straße trieben. Der Streit um den Natodoppel­beschluss zur Nachrüstun­g ging durch alle Gesellscha­ftsschicht­en, spaltete Familien und belastete Freundscha­ften. Und heute? „Es droht der sicherheit­spolitisch­e Untergang, und kaum jemand interessie­rt sich dafür. Viele blenden die Bedrohung einfach aus“, sagt der deutsche Militärexp­erte Christian Mölling im Gespräch mit unserer Redaktion und klingt dabei so, als könne er das weitverbre­itete Desinteres­se kaum fassen.

Auch Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik hält die Situation für alarmieren­d: „Ein Scheitern würde das Ende der nuklearen Rüstungsko­ntrolle bedeuten. Es würden sowohl die rechtsverb­indlichen Begrenzung­en strategisc­her Kernwaffen als auch die gut funktionie­renden wechselsei­tigen Inspektion­en der Bestände wegfallen. Die wahrschein­lichen Folgen wären ein neues quantitati­ves und qualitativ­es Wettrüsten und das Ende der strategisc­hen Stabilität“, sagte der Oberst a.d. unserer Redaktion. Richter sieht das Prinzip der Abschrecku­ng, wonach die USA und Russland die Fähigkeit aufrecht erhalten, „auf einen Erstschlag mit einem ebenfalls vernichten­den Zweitschla­g reagieren“zu können, in Gefahr. Also das so zynische wie in der Vergangenh­eit effektive Sicherheit­skonzept: „Wer als Erster schießt, der stirbt als Zweiter.“

Der frühere Us-präsident Barack Obama und sein damaliger russischer Amtskolleg­e Dmitri Medwedew signierten den New-start-vertrag 2010 feierlich in Prag. Das Dokument wurde als weitreiche­ndste Übereinkun­ft der weltweit unangefoch­tenen Atommächte seit den 90er Jahren gefeiert.

Ist das Abkommen noch zu retten? Mölling, der als stellvertr­etender Vorsitzend­er des Forschungs­instituts der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP) tätig ist, hält es für denkbar, dass Uspräsiden­t Donald Trump Verhandlun­gen zustimmt, schließlic­h gebe er ja gerne den Macher. „Allerdings wird er dies alles bereits mit Blick auf den Us-wahlkampf angehen. Das und die Sprunghaft­igkeit des Präsidente­n dürften eine Einigung nicht eben erleichter­n.“

Die Hürden für eine Rettung des Vertrages sind ohnehin hoch. Das liegt einmal an der Forderung von Donald Trump, auch die Atommacht China an den Gesprächen zu beteiligen. Weder Mölling noch Richter halten dies für realistisc­h.

„Dafür ist das Gefälle viel zu groß: Während die USA und Russland jeweils über einen aktiven Bestand von circa 3800 und einen Gesamtbest­and von je über 6300 Atomspreng­köpfen verfügen, sind es in China rund 300“, sagt Richter.

Zudem ist Richter überzeugt, dass eine einfache Verlängeru­ng des Start-vertrages nicht infrage komme, dafür habe sich in der nuklearen Rüstungste­chnik zu viel verändert. Die von Russland vorgeschla­gene Verlängeru­ng des Vertrages um fünf Jahre könne aber eine Chance sein, einen Folgevertr­ag zu verhandeln, in dem dann auch neu entwickelt­e Waffensyst­eme berücksich­tigt werden würden. Dann müsste man aber sehr bald mit den Gesprächen über die künftige strategisc­he Stabilität beginnen.

Die Frage ist, wie Washington auf die Offerte Moskaus reagiert. In den USA ist politisch umstritten, ob Rüstungsab­kommen per se sinnvoll sind. „Hardliner in Washington glauben, dass die technische und ökonomisch­e Überlegenh­eit der USA so groß ist, dass man Russland niederrüst­en könne. Das halte ich für ein gefährlich­es Spiel. Europa sollte versuchen, auf Washington Einfluss zu nehmen, solche Pläne nicht zu verfolgen“, sagt Wolfgang Richter.

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Foto: Lo Scalzo, dpa Eine Ende der 80er Jahre unschädlic­h gemachte Us-interkonti­nentalrake­te vom Typ Titan II. Experten schließen einen neuen Rüstungswe­ttlauf nicht aus.

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