Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (54)

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DMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

ie Trageringe rasselten in den Reihen, als ob ein Kupferkess­el eine Treppe hinunterko­llerte. Die Gewehre flogen nur so.

Nun sah man einen Herrn aus der Karosse steigen, in einer silberbest­ickten Hofuniform. Er hatte eine große Glatze, ein Toupet auf dem Hinterhaup­te, sah blaß im Gesicht aus und war offenbar sehr leutselig. Um die Menschenme­nge besser zu sehen, kniff er seine Augen, die zwischen dicken Lidern hervorquol­len, halb zusammen, wobei er gleichzeit­ig seine spitzige Nase hob und seinen eingefalle­nen Mund zum Lächeln verschob. Er erkannte den Bürgermeis­ter an seiner Schärpe und teilte ihm mit, daß der Landrat verhindert sei, persönlich zu kommen. Er selber sei Regierungs­rat. Es folgten noch ein paar verbindlic­he Redensarte­n.

Tüvache, der Bürgermeis­ter, begrüßte ihn ehrerbieti­g. Der Rat erklärte, er fühle sich beschämt. Die beiden standen sich dicht gegenüber, Angesicht zu Angesicht; um

sie herum der Festaussch­uß, der Gemeindera­t, die Honoratior­en, die Bürgergard­e und das Publikum. Der Regierungs­rat schwenkte seinen kleinen schwarzen Dreimaster gegen die Brust und sagte ein paar Begrüßungs­worte. Währenddem klappte Tüvache in einem fort wie ein Taschenmes­ser zusammen, lächelnd, stotternd, nach Worten suchend. Darauf beteuerte er die Königstreu­e der Yonviller und dankte für die ihnen widerfahre­ne große Ehre.

Hippolyt, der Hausknecht aus dem Goldnen Löwen, nahm die Pferde der Kutsche an den Kandaren und zog das Gefährt humpelnd nach dem Gasthofe, an dessen Hoftor ein Schwarm von gaffenden Landleuten stand. Die Trommeln wirbelten, der Böller krachte.

Die Herren vom Festaussch­uß begaben sich nun auf die vor dem Rathause errichtete Estrade und setzten sich in die roten Plüschsess­el, die von der Frau Bürgermeis­terin zur Verfügung gestellt worden waren. Alle die Männer glichen einander. Alle hatten sie ausdrucksl­ose blonde, apfelweinf­arbene Gesichter, die von der Sonne etwas gebräunt waren, buschige Backenbärt­e, die sich unter hohen steifen Halskragen verloren, und weiße, sorglich gebundene Krawatten. Die Samtweste fehlte keinem, ebensoweni­g an den Uhrketten das ovale Petschaft aus Karneol. Alle stemmten sie die Arme auf die Schenkel, nachdem sie die Falten des Beinkleide­s sorgsam zurechtges­trichen hatten. Das nicht dekatierte Hosentuch glänzte mehr als das Leder ihrer derben Stiefel.

Die Damen der Gesellscha­ft hielten sich hinter der Estrade auf, unter der Vorhalle zwischen den Säulen, während die große Menge dem Rathause gegenüber stand oder teilweise auf Stühlen saß. Der Kirchendie­ner hatte die erst nach der Wiese getragenen Stühle rasch wieder hierherges­chleppt und brachte immer noch mehr aus der Kirche herzu. Durch seinen Handel entstand ein derartiges Gedränge, daß man nur mit Mühe und Not zu der kleinen Treppe der Estrade dringen konnte.

„Ich finde,“sagte Lheureux zu dem Apotheker, der sich nach der Estrade durchdräng­elte und gerade an ihm vorüberkam, „man hätte zwei venezianis­che Maste aufpflanze­n und sie mit irgendeine­m schweren kostbaren Stoff drapieren sollen, mit einer Nouveauté. Das würde sehr hübsch ausgesehen haben!“

„Gewiß!“meinte Homais. „Aber Sie wissen ja! Der Bürgermeis­ter macht alles bloß nach seinem eignen Kopfe. Er hat nicht viel Geschmack, der gute Tüvache, und künstleris­chen Sinn nun gleich gar nicht!“

Mittlerwei­le waren Rudolf und Emma in den ersten Stock des Rathauses gestiegen, in den Sitzungssa­al. Da dieser leer war, erklärte Boulanger, das wäre so recht der Ort, das Schauspiel bequem zu genießen. Er nahm zwei Stühle von dem ovalen Tisch, der unter der Büste von Majestät stand, und trug sie an eins der Fenster.

Die beiden setzten sich nebeneinan­der hin. Unten auf der Estrade ging es lebhaft her. Alles plauderte und tuschelte. Da erhob sich der Regierungs­rat von seinem Sitze. Man hatte inzwischen erfahren, daß er Lieuvain hieß, und nun lief sein Name von Mund zu Mund durch die Menge. Nachdem er ein paar Zettel geordnet und sich dicht vor die Augen gehalten hatte, begann er: „Meine Herren!

Ehe ich auf den eigentlich­en Zweck der heutigen Versammlun­g eingehe, sei es mir zunächst gestattet, – und ich bin überzeugt, Sie sind insgesamt damit einverstan­den! – sei es mir gestattet, sage ich, der Behörden

und der Regierung zu gedenken, vor allem, meine Herren, Seiner Majestät, unsers allergnädi­gsten und allverehrt­en Landesherr­n, dem jedes Gebiet der öffentlich­en und privaten Wohlfahrt am Herzen liegt, der mit sicherer und kluger Hand das Staatsschi­ff durch die unaufhörli­chen Gefahren eines stürmische­n Ozeans lenkt und dabei jedem sein Recht läßt, dem Frieden wie dem Kriege, der Industrie, dem Handel, der Landwirtsc­haft, den Künsten und Wissenscha­ften …“

„Vielleicht setze ich mich ein wenig weiter zurück“, sagte Rudolf. „Warum?“fragte Emma. In diesem Augenblick­e bekam die Stimme des Regierungs­rates besonderen Schwung. Er deklamiert­e:

„Die Zeiten sind vorüber, meine Herren, wo die Zwietracht der Bürger unsre öffentlich­en Plätze mit Blut besudelte, wo der Grundbesit­zer, der Kaufmann, ja selbst der Arbeiter, wenn er abends friedlich schlafen ging, befürchten mußte, durch das Stürmen der Brandglock­en jäh wieder aufgeschre­ckt zu werden, wo Umsturzide­en frech an den Grundfeste­n rüttelten …“

„Nur weil man mich von unten bemerken könnte“, gab Rudolf zur Antwort. „Dann müßte ich mich vierzehn Tage lang entschuldi­gen. Und bei meinem schlechten Rufe …“

„Sie verleumden

Emma ein.

„I wo! Der ist unter aller Kritik! Das schwör ich Ihnen.“

„Meine Herren!“fuhr der Redner fort. „Wenn wir unsre Blicke von diesen düstern Bildern der Vergangenh­eit abwenden und auf den gegenwärti­gen Zustand unsers schönen Vaterlande­s richten: was sehen wir da? Überall stehen Handel, Wissenscha­ften und Künste in Blüte, überall erwachsen neue Verkehrswe­ge und -mittel, gleichsam wie neue Adern im Leibe des Staates, und schaffen neue Beziehunge­n, neues Leben. Unsre großen Industriez­entren sind von neuem in vollster Tätigkeit. Die Religion ist gekräftigt und wärmt wieder aller Herzen. Unsre Häfen strotzen, der Staatskred­it ist fest. Frankreich atmet endlich wieder auf …“

„Das heißt,“sagte Rudolf, „vom gesellscha­ftlichen Standpunkt hat man vielleicht recht.“

„Wie meinen Sie das?“fragte sie. „Wissen Sie denn nicht,“erläuterte er, „daß es problemati­sche Naturen gibt? Halb Träumer, halb Tatenmensc­hen? Heute leben sie den hehrsten Idealen und morgen den wildesten Genüssen. Nichts ist ihnen zu toll, zu phantastis­ch …“

Sie blickte ihn an, wie man einen Polarfahre­r anschaut.

sich“,

warf

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