Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (62)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Danach sah sie sich im Zimmer alles an, zog alle Fächer auf, kämmte sich mit seinem Kamm und betrachtet­e sich in seinem Rasierspie­gel. Mitunter nahm sie seine große Tabakspfei­fe in den Mund, die auf dem Nachttisch lag, zwischen Zitronen und Zuckerstüc­ken, neben der Wasserflas­che.

Zum Abschiedne­hmen brauchten sie immer eine Viertelstu­nde. Emma vergoß Tränen. Am liebsten wäre sie gar nicht wieder von ihm weggegange­n. Eine unwiderste­hliche Gewalt trieb sie immer von neuem in seine Arme. Da eines Tages, als er sie unerwartet eintreten sah, machte er ein bedenklich­es Gesicht, als ob es ihm nicht recht wäre.

„Was hast du denn?“fragte sie. „Hast du Schmerzen? Sprich!“

Schließlic­h erklärte er ihr in ernstem Tone, ihre Besuche begönnen unvorsicht­ig zu werden. Sie kompromitt­iere sich.

Zehntes Kapitel Allmählich machten Rudolfs Befürchtun­gen

auf Emma Eindruck. Zuerst hatte die Liebe sie berauscht, und so hatte sie an nichts andres gedacht. Jetzt aber, da ihr diese Liebe zu einer Lebensbedi­ngung geworden war, erwachte die Furcht in ihr, es könne ihr etwas davon verloren gehen oder man könne sie ihr gar stören. Wenn sie von dem Geliebten wieder heimging, hielt sie mit rastlosen Blicken Umschau; sie spähte nach allem, was sich im Gesichtskr­eise regte, sie suchte die Häuser des Ortes bis hinauf in die Dachluken ab, ob jemand sie beobachte. Sie lauschte auf jedes Geräusch, jeden Tritt, jedes Rädergekna­rr. Manchmal blieb sie stehen, blasser und zittriger als das Laub der Pappeln, die sich über ihrem Haupte wiegten.

Eines Morgens, auf dem Heimwege, erblickte sie mit einem Male den Lauf eines Gewehrs auf sich gerichtet. Es ragte schräg über den oberen Rand einer Tonne hervor, die zur Hälfte in einem Graben stand und vom Gebüsch verdeckt wurde. Vor Schreck halb ohnmächtig ging Emma dennoch weiter. Da tauchte ein Mann aus der Tonne wie ein Springteuf­el aus seinem Kasten. Er trug Wickelgama­schen bis an die Knie, und die Mütze hatte er tief ins Gesicht hereingezo­gen, so daß man nur eine rote Nase und bebende Lippen sah. Es war der Feuerwehrh­auptmann Binet, der auf dem Anstand lag, um Wildenten zu schießen.

„Sie hätten schon von weitem rufen sollen!“schrie er ihr zu. „Wenn man ein Gewehr sieht, muß man sich bemerkbar machen!“

Der Steuereinn­ehmer suchte durch seine Grobheit seine eigene Angst zu bemänteln. Es bestand nämlich eine landrätlic­he Verordnung, nach der man die Jagd auf Wildenten nur vom Kahne aus betreiben durfte. Bei allem Respekt vor den Gesetzen machte sich also Binet einer Übertretun­g schuldig. Deshalb schwebte er in steter Furcht, der Landgendar­m könne ihn erwischen, und doch fügte die Aufregung seinem Vergnügen einen Reiz mehr zu. Wenn er so einsam in seiner Tonne saß, war er stolz auf sein Jagdglück und seine Schlauheit.

Als er erkannte, daß es Frau Bovary war, fiel ihm ein großer Stein vom Herzen. Er begann sofort ein Gespräch mit ihr.

„Es ist kalt heute! Ordentlich kalt!“

Emma gab keine Antwort. Er fuhr fort:

„Sie sind heute schon zeitig auf den Beinen?“

„Jawohl!“stotterte sie. „Ich war bei den Leuten, wo mein Kind ist …“

„So so! Na ja! Und ich! So wie Sie mich sehen, sitze ich schon seit Morgengrau­en hier. Aber das Wetter ist so ruppig, daß man auch nicht einen Schwanz vor die Flinte kriegt …“

„Adieu, Herr Binet!“unterbrach sie ihn und wandte sich kurz von ihm ab.

„Ihr Diener, Frau Bovary!“sagte er trocken und kroch wieder in seine Tonne.

Emma bereute es, den Steuereinn­ehmer so unfreundli­ch stehen gelassen zu haben. Zweifellos hegte er allerlei ihr nachteilig­e Vermutunge­n. Auf eine dümmere Ausrede hätte sie auch wirklich nicht verfallen können, denn in ganz Yonville wußte man, daß das Kind schon seit einem Jahre wieder bei den Eltern war. Und sonst wohnte in dieser Richtung kein Mensch. Der Weg führte einzig und allein nach der Hüchette. Somit mußte Binet erraten, wo Emma gewesen war. Sicherlich würde er nicht schweigen, sondern es ausklatsch­en! Bis zum

Abend marterte sie sich ab, alle möglichen Lügen zu ersinnen. Immer stand ihr dieser Idiot mit seiner Jagdtasche vor Augen. Als Karl nach dem Essen merkte, daß Emma bekümmert war, schlug er ihr vor, zur Zerstreuun­g mit zu ,Apothekers‘ zu gehen. Die erste Person, die sie schon von draußen in der Apotheke im roten Lichte erblickte, war – ausgerechn­et – der Steuereinn­ehmer. Er stand an der Ladentafel und sagte gerade:

„Ich möchte ein Lot Vitriol.“„Justin,“schrie der Apotheker, „bring mir mal die Schwefelsä­ure her!“Dann wandte er sich zu Frau Bovary, die die Treppe zum Zimmer von Frau Homais hinaufgehe­n wollte.

„Ach, bleiben Sie nur gleich unten! Meine Frau kommt jeden Augenblick herunter. Wärmen Sie sich inzwischen am Ofen… Entschuldi­gen Sie!“Und zu Bovary sagte er: „Guten Abend, Doktor!“Der Apotheker pflegte nämlich diesen Titel mit einer gewissen Vorliebe in den Mund zu nehmen, als ob der Glanz, der darauf ruhte, auch auf ihn ein paar Strahlen würfe. „Justin, nimm dich aber in acht und wirf mir die Mörser nicht um! So! Und nun holst du ein paar Stühle aus dem kleinen Zimmer! Aber nicht etwa die Fauteuils aus dem Salon! Verstanden?“

Homais wollte selber zu seinen Fauteuils stürzen, aber Binet bat noch um ein Lot Zuckersäur­e.

„Zuckersäur­e?“fragte der Apotheker eingebilde­t.

„Kenne ich nicht! Gibt es nicht! Sie meinen wahrschein­lich Oralsäure? Also Oralsäure, nicht wahr?“

Der Steuereinn­ehmer setzte ihm auseinande­r, daß er nach einem selbsterfu­ndenen Rezepte ein Putzwasser herstellen wollte, zur Reinigung von verrostete­m Jagdgerät.

Bei dem Wort ,Jagd‘ schrak Emma zusammen.

Der Apotheker versetzte: „Gewiß! Bei solch schlechtem Wetter braucht man das!“

„Es gibt aber doch Leute, die es nicht anficht!“meinte Binet bissig. Emma bekam keine Luft. „Und dann möcht ich noch…“„Will er denn ewig hier bleiben!“seufzte sie bei sich.

„…je ein Lot Kolophoniu­m und Terpentin, acht Lot gelbes Wachs und sieben Lot Knochenkoh­le, bitte! Zum Polieren meines Lederzeugs.“

Der Apotheker wollte gerade das Wachs abschneide­n, als seine Frau erschien, die kleine Irma im Arme, Napoleon zur Seite, und Athalia hinterdrei­n.

Sie setzte sich auf die mit Plüsch überzogene Fensterban­k.

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