Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Europa verliert den Glauben an sich selbst

Die Lockerunge­n an den Binnengren­zen in der Corona-krise sind vielverspr­echend. Sie bringen die EU aber kaum weiter

- VON STEFAN LANGE lan@augsburger-allgemeine.de

Das kleine Winzerdorf Schengen an der Grenze von Luxemburg zu Deutschlan­d wurde vor 35 Jahren zum Symbol der Hoffnung. Ein Europa ohne Grenzen brachten die ersten Eustaaten hier auf den Weg, das Schengen-abkommen gilt neben dem Euro als die wichtigste Errungensc­haft der Union. Doch anstatt es mit ähnlich großem Aufwand zu hegen und zu pflegen wie die Gemeinscha­ftswährung, wird das Abkommen immer wieder torpediert.

Die ständige Terrorgefa­hr sorgt ohnehin fortwähren­d für Einschränk­ungen des freien Grenzverke­hrs. Die letzte große Belastungs­probe musste der Schengenra­um nach den großen Flüchtling­sbewegunge­n im Herbst 2015 aushalten. Damals mahnten liberal denkende Geister, es dürfe keine neuen Schlagbäum­e im Herzen

Europas geben. Ein Warnruf, der unter dem Druck weitreiche­nder Einschränk­ungen auch im Zuge der Corona-krise nötig wurde. Und es weiterhin ist.

Die Binnengren­zen zu Deutschlan­d werden wieder geöffnet. Stufenweis­e, teilweise und sehr vorsichtig. Das ist richtig so. Das Robert-koch-institut stuft keine Risikogebi­ete mehr ein, das Infektions­geschehen in Nachbarlän­dern wie Österreich oder der Schweiz gleicht sich immer mehr an. Vor allem gilt an den Grenzen, was auch im Inland gilt: Sobald das Infektions­geschehen wieder in den roten Bereich dreht, werden die Übergänge schnell wieder dichtgemac­ht.

Gleichzeit­ig offenbart sich in den Lockerungs­maßnahmen eine große Handlungsu­nfähigkeit der Europäisch­en Union. Länder wie Tschechien und Polen ziehen bei den Grenzöffnu­ngen nicht mit. Der Eu-weite Machtkampf zwischen denen, die Schengen hochhalten, und denjenigen, für die der Gesundheit­sschutz absolut ist, tobt weiter. In Brüssel haben sie unter der deutschen Kommission­spräsident­in

Ursula von der Leyen in dieser Frage nur ein Unentschie­den erreichen können. Corona sorgt für ein Europa der zwei Geschwindi­gkeiten, das in anderen Bereichen durchaus gewollt ist, hier aber verheerend wirkt.

Die Industriep­roduktion beispielsw­eise kann nur anlaufen, wenn der freie Grenzverke­hr mit allen Eu-mitgliedst­aaten wieder möglich ist. Die bisherigen Ausnahmen reichen dafür nicht. Über die am Ende monetären Probleme hinaus ängstigen die politische­n Auswirkung­en dieser Kleinstaat­erei. Der Austausch von Erfahrunge­n etwa im Kampf gegen das Virus etwa müsste und könnte viel stärker sein. Treffen der Parlamente – es könnten virtuelle sein – finden aber nicht statt. Deutschlan­d und Frankreich nutzen ihren Einfluss nicht, um auf mehr Einigkeit zu dringen. Berlin und Paris sind wie alle anderen vor allem mit sich selbst beschäftig­t.

Europäisch­e Ansätze im Kampf gegen die Pandemie sind kaum vorhanden. Die EU verfügt zwar über das Europäisch­e Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheite­n, aber das ist nur spärlich ausgestatt­et. Immerhin geben Äußerungen von Kanzlerin Angela Merkel Anlass zur Hoffnung, dass sich daran zumindest auf lange Sicht etwas ändern könnte.

Die Freude über die ersten vorsichtig­en Öffnungen der deutschen Grenzen hin zu den Nachbarlän­dern ist groß. Viele Menschen können jetzt anfangen, sich vorsichtig auf ihren Urlaub zu freuen. Das alles ist wichtig und das alles ist schön. Es reicht aber nicht. Wie schon in der Finanz-, so gilt auch in der Coronakris­e, dass Europa mit geeinten Kräften viel stärker im Kampf gegen das Virus wäre, es gemeinsam vielleicht sogar besiegen könnte. „Ein Europa, das schützt“, diese schon von vielen Spitzenpol­itikern beschriebe­ne Vision, gibt es in der Corona-pandemie leider nicht.

Berlin und Paris sind mit sich selbst beschäftig­t

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