Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Die Katastrophe kann noch kommen“
Eckhard Nagel, langjähriger Chefarzt und Mitglied des Ethikrats, erklärt, warum Deutschland bislang besser als andere Länder durch die Corona-pandemie kommt – und welche ersten Lehren er aus der Krise zieht
Herr Professor Nagel, Sie waren in Augsburg Chefarzt, Vorstandsvorsitzender des Uniklinikums Essen und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Heute lehren Sie schwerpunktmäßig Medizin, Management und Gesundheitswissenschaften in Bayreuth. Wie stellt sich die Corona-situation bei Ihnen am Klinikum und der Uni dar? Nagel: Wir haben auch bei uns dankbar wahrgenommen, dass die Anzahl der Coronavirus-patienten in den fränkischen Krankenhäusern geringer war, als wir am Anfang angenommen hatten. Es wäre gravierend schwieriger geworden, wenn wir die Zahl von Patienten bekommen hätten, wie wir es in anderen Ländern erlebt haben. Allerdings kommen auch wir bei der Beschaffung von Schutzausrüstung gerade mal so hin. Oft mussten Masken mehr als ein Mal benutzt werden. Auch niedergelassene Ärzte und ihre Mitarbeiter leiden unter erheblichem Mangel an Material, obwohl es dort deutlich weniger Patientenkontakte gegeben hat. Alles muss unter erheblichem Zeit- und Organisationsdruck bewältigt werden. Überall, wo Maßnahmen unzureichend sind, zum Beispiel bei der Schutzausrüstung, bestand und besteht die Gefahr, dass sich die Helfenden bei Kranken infizieren und zudem die bisweilen lebensgefährliche Erkrankung weitertragen.
Welche Folgen hat es, wenn die Krankenhäuser langsam wieder auf Normalbetrieb hochfahren?
Nagel: Wir müssen in den kommenden Wochen erst lernen, was es bedeutet, mehr und mehr in einen Normalbetrieb überzugehen. Tatsächlich sind sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung Patienten auf einmal von der Bildfläche verschwunden. Termine wurden von Ambulanzen oder Patienten abgesagt. Es gab offensichtlich bei vielen große Angst vor einer Ansteckung. Wir wissen noch nicht, welche Auswirkungen es auf die gesamte Bevölkerung hat, dass wir uns in den letzten Wochen so stark auf Covid-fälle konzentriert haben. Es ist anzunehmen, dass es nicht weniger Herzinfarkte gegeben hat, aber wir haben weniger behandelt. Und vermutlich gab es nicht weniger Krebs-erkrankungen, aber viel weniger entsprechende Diagnosen und das sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern.
Sie erwarten, dass die Gesundheit vieler nicht infizierter Menschen unter der Corona-pandemie gelitten hat? Nagel: Das müssen wir in den kom
Wochen genau untersuchen, aber das ist meine Befürchtung. Viele behaupten, dass es in normalen Zeiten eher eine Überversorgung von Patientinnen und Patienten gibt. Ich teile diesen Eindruck nicht. Ich glaube, die generell gute Gesundheitsversorgung in Deutschland war ein wichtiges Fundament, um mit der Pandemie umgehen zu können.
Kritiker der Einschränkungen erhalten Zulauf, viele sehen die Maßnahmen im Nachhinein als übertrieben. Nagel: Diejenigen, die jetzt kritisch behaupten, die große Katastrophe sei ausgeblieben, sollten bedenken, dass wir das noch gar nicht genau wissen. Auch eine zweite oder dritte Welle der Pandemie, die ja jetzt intensiv weltweit diskutiert wird, kann noch zu einer enormen Belastung des Gesundheitssystems führen. Gott sei Dank ist es in Deutschland bis jetzt nicht dazu gekommen, weil alle alles Sinnvolle dafür getan haben, um es zu vermeiden. Wir sollten uns über das Ausbleiben der völligen Überforderung vorbehaltlos freuen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass für viele Patienten und deren Angehörige im Fall einer schweren oder tödlichen Covid-erkrankung tatsächlich die Katastrophe eingetreten ist.
Welche Lockerungen würden wichtig halten?
Nagel: Ich halte die Öffnung von Kitas und Grundschulen für eine der wichtigsten Aufgaben. Wir wissen inzwischen, dass für Kinder eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit besteht, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Und im Falle einer Infektion durchlaufen sie die Erkrankung zu 95 Prozent unkompliziert. Das heißt, Kinder sind durch das Coronavirus deutlich weniger gefährdet als Erwachsene. Doch auf der anderen Seite besteht für sie ein deutlich größeres Risiko, dass sie unter den angeordneten Einschränkungen leiden: Kindern drohen Entwicklungsverzögerungen und negative psychische, psychomotorische und generell gesundheitliche Auswirkungen. Deshalb bitten auch Kinderärzte die Politik, die Kindermenden
Sie
für tagesstätten und Grundschulen jetzt sofort schrittweise zu öffnen. Die gesundheitlichen Risiken und die Wahrscheinlichkeit, andere zu gefährden, sind bei Kindern deutlich geringer, als wir am Anfang dachten. Hier ist eine Lockerung in jedem Fall verantwortbar, was wir auch an den Entwicklungen etwa in Island oder Dänemark erkennen können.
Ist es richtig, dass die Politik nun einen regionalen Ansatz der Corona-maßnahmen verfolgt?
Nagel: Unsere erste Stellungnahme zu möglichen Lockerungen der Einschränkungen war überschrieben mit den Worten: Eine Sternstunde des Föderalismus! Wir haben in den vergangenen Wochen erkennen können, dass die Epidemie regional sehr unterschiedlich auftritt. Und das wird sie weiter tun, denn das ist typisch für eine Pandemie. Es kann immer wieder überfallartig in bestimmten Regionen zu einer großen Belastung kommen, wie wir an bisherigen Hotspots gesehen haben. Von daher ist es sehr wichtig, dass wir uns lokal weiter aufmerksam gut vorbereiten und dass wir von vornherein in Deutschland eine regionale Versorgung unterstützen, damit wir nicht in eine Situation kommen, wie wir sie in anderen Ländern erlebt haben.
Für wie realistisch halten Sie die Hoffnung, dass sich nach den Erfahrungen dieser Epidemie die Situation in den Kliniken verbessert?
Nagel: Es gibt viele Lehren, die wir aus dieser Pandemie ziehen werden. Das merken viele Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen mit positiven und negativen Erlebnissen. In der Gesundheitsversorgung werden aber die gleichen Probleme existieren wie zuvor: Wo Pflegemangel geherrscht hat, wird er auch weiter bestehen, wo Fachkräfteund Ärztemangel herrscht, wird er weiterhin zu beklagen sein. Die Verschärfung der Hygienemaßnahmen an den Krankenhäusern wird eine Lehre sein, die überfällig war und die wir langfristig beibehalten werden. Aber das wird zu Mehrbelastungen in der alltäglichen Arbeit führen.
Welche Lehren sehen Sie für die Gesundheitspolitik?
Nagel: Man muss wissenschaftlich genau klären, warum die Pandemie in Deutschland, aber auch in Ländern wie Österreich und Südkorea einen besseren Verlauf genommen hat als etwa in Norditalien, Spanien, England oder den USA. Dies hat mit vielen allgemeinen Faktoren zu tun, aber sicher auch mit der Organisation des Gesundheitswesens. Dabei spielt das Thema einer gemeinschaftlichen und solidarischen Daseinsvorsorge samt ihrer politischen Vorgaben eine große Rolle. Die Frage ist, wie viel an medizinischer Versorgung und Zugang ermöglichen wir den Menschen. Daran schließt sich auch die Frage an, wie man in Zukunft die Krankenhausversorgung finanziert. Das heutige Fallpauschalen-system, wie wir es in Deutschland entwickelt haben, ist sicher kein Zukunftsmodell.
Interview: Michael Pohl
Eckhard Nagel ist Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Uni Bayreuth. Zuvor war der 59-Jährige Vorstandschef der Uniklinik Essen, Chefarzt am Klinikum Augsburg und 15 Jahre lang Mitglied des Ethikrats.