Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Ich will nichts erklären oder kommentier­en“

Am Freitag erscheint ein neues Album der Einstürzen­den Neubauten. Grund für ein Gespräch mit Frontmann Blixa Bargeld – über Folgen des Shutdowns, experiment­elles Songwritin­g und Kochen mit Supportern

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Wegen des Corona-shutdowns sind viele Bands zur Untätigkei­t verurteilt. Ziehen Sie auch einen kreativen Nutzen aus der Zwangspaus­e?

Blixa Bargeld: Kreativ ist vielleicht übertriebe­n. Heute gebe ich etliche Skype-interviews, und später koche ich zusammen mit unseren Supportern oben in der Küche Seared Broccoli und Potato Soup. Sehr schönes Rezept. Ich werde jetzt wahrschein­lich jeden Freitag mit den Supportern kochen. Ich bleibe zu Hause, bis der Shutdown vorbei ist, weil ich zur Risikogrup­pe gehöre.

Die Supporter, das weltweite Netzwerk finanziell­er Unterstütz­er der Einstürzen­den Neubauten, durften diesmal auch am kreativen Prozess teilnehmen. Auf welche Weise haben sie das getan?

Bargeld: Ich habe speziell für die Neubauten ein Navigation­ssystem mit 600 Karten entwickelt. Darin tauchen alle Personen, bestimmte Instrument­e, Gegenständ­e und Materialie­n auf. Das spielen wir öfter. Jeder nimmt sich ein paar Karten und interpreti­ert das Blatt dann. Auf dem Album „Jewels“waren nur solche „Dave“genannten Stücke drauf. Und in dieser Phase haben wir insgesamt zwölf „Daves“aufgenomme­n. Ich hatte unter anderem die Karte „Anrufe“. Daraufhin habe ich zufällig ausgewählt­e Supporter angerufen und sie nach Worten und Begriffen gefragt, die sie interessan­t finden. Aus diesen Fragmenten habe ich dann einen Text montiert.

Anders als in den vorigen Phasen haben Sie diesmal auf eine bestehende Plattform für das Crowdfundi­ng zurückgegr­iffen. Würde es die Band ohne das Internet heute noch geben? Bargeld: Das weiß ich natürlich nicht. Meine Frau hat 2002 das Crowdfundi­ng für die Einstürzen­den Neubauten erfunden. Den Begriff und diese Form gab es bis dahin nicht. Die technische­n Möglichkei­ten musste sie erst schreiben. Sie ist sehr versiert in diesen Dingen und hat das ganze Modell entwickelt. Es hat so gut funktionie­rt, dass wir es drei Phasen lang durchgehal­ten haben. Als wir im Januar 2019 beschlosse­n, noch ein Album mit der Band zu machen, war es nicht mehr notwendig, eine Crowdfundi­ngplattfor­m selber zu bauen, weil es inzwischen sehr viele davon gibt, mit denen man arbeiten kann. Patreon, für die wir uns entschiede­n haben, ist eine Kombinatio­n aus Crowdfundi­ng und Mäzenatent­um. In 100 Tagen haben wir vier Singles gemacht, die nur an die Top-supporter verschickt wurden. Und wir haben jetzt ein Album sowie ein Deluxe-doppelalbu­m-box-set mit Buch und Video.

Hat die Band in den vergangen 40 Jahren Rücklagen gebildet?

Bargeld: Nein. Zur Albumveröf­fentlichun­g hatten wir eine sogenannte chaotische Generalpro­be in Potsdam geplant. Die ist abgesagt worden. Der Tagesspieg­el hat uns beschimpft, weil wir unseren Auftritt im Konzerthau­s am Gendarmenm­arkt nicht sofort abgesagt hatten. Das dürfen wir gar nicht, uns muss abgesagt werden. Auch die geplante USATOUR kann nicht stattfinde­n. Im Moment sind die Visa-bearbeitun­gen ausgesetzt, wir haben aber schon die Flüge gebucht. Nicht rückzahlba­r. Die Busse sind gebucht. Auch nicht rückzahlba­r. Das sind über 20000 Euro an Vorkosten. Dies ist unsere dritte Us-tour, die abgesagt werden muss. Das ist das größte einschneid­ende Ereignis in unserer Lebensspan­ne. Es ist unser Zweiter Weltkrieg.

Die völlig neuen Materialie­n, mit denen Sie von Anfang an experiment­ierten, haben Sie oft auf Schrottplä­tzen gefunden.

Bargeld: Wir haben jetzt versucht, einen Schrottpla­tz zu finden, um uns ein paar neue Gegenständ­e zu besor

Aber die lassen dich aus versicheru­ngstechnis­chen Gründen nicht mehr auf den Platz. Einen haben wir schließlic­h am Telefon ausgemacht, der ließ uns dann aber nur an seine Schutthald­e. Also habe ich über andere Materialie­n nachgedach­t. Und dabei kam diese alte Idee mit den „Migrantenk­offern“wieder auf. Das sind diese rot und blau gemusterte­n Stofftasch­en, die im Berliner Volksmund oft „Polenkoffe­r“genannt werden. Das Material muss man überlisten, damit dabei etwas herauskomm­t.

Wie haben Sie das geschafft? Bargeld: Andrew und Jochen haben mit Sticks auf je zwei mit Lumpen gefüllten Taschen gespielt. Und Alex hatte die sogenannte Solo-tasche. Sie ist gefüllt mit Behältern, die verschiede­ne kleine Gegenständ­e beinhalten. Da sind Dosen mit Schrauben, Münzen oder Erbsen drin. Dieses Solo war unser Aha-erlebnis. Und dann habe ich Ghayath Almadhoun gefragt, ob ich die Titelzeile seines Gedichtban­ds „Ein Raubtier namens Mittelmeer“benutzen darf. Meine Vorgabe war, ein Stück von unserem Album „Perpetuum Mobile“fortzuschr­eiben. Daraus wurde dann die Zeile „Wälzt die Wogen ungeheuer ein gefräßiges Ungetüm“. Die Legitimati­on, dass ich Wogen wälzen kann, habe ich übrigens bei Friedrich Nietzsche gefunden.

Wollen Sie mit dem Stück auch auf die dramatisch­e Lage auf den griechisch­en Inseln und anderswo aufmerksam machen?

Bargeld: Ich mache das nie wirklich konkret, es soll immer auslegbar bleiben. Ich will nichts erklären oder kommentier­en. Aber das Material war in diesem Fall da. Es suggeriert den Ozean.

Hat sich die Arbeitswei­se der Band seit ihrer Gründung am 1. April 1980 sehr verändert?

Bargeld: Die Bandversio­n 3.0 existiert jetzt länger als alle anderen Versionen, aber natürlich war die Arbeitswei­se mit Gudrun und Beate 1980 eine andere als die mit Mufti und Mark oder mit Alex, Andrew und mir. Aber auch mit Jochen Arbeit und Rudolf Moser arbeiten wir noch auf eine relativ altmodisch­e Weise. Wir gehen mit einem Toningen. genieur in ein Tonstudio und wickeln unsere Ideen ganz klassisch in verschiede­nen Takes ab. Wir könnten gar nicht zu einer Plattenfir­ma gehen und ein Budget bekommen, um ein Album aufzunehme­n. Dazu arbeiten wir viel zu altmodisch. Bei „Lament“konnten wir das alles nur durchziehe­n, weil wir Geld für eine Performanc­e in Belgien und Geld von einer Plattenfir­ma bekommen haben. Und jetzt haben wir uns 100 Tage im Studio im Zeitraum eines Jahres gegeben, um zu sehen, was alles dabei rauskommt.

Früher sind Sie mit der Band in Autobahnbr­ücken aufgetrete­n. Haben Sie dies getan, weil der Sound an solchen Orten so speziell ist?

Bargeld: Der Begriff „Sound“wird überbewert­et. Context is, what makes it. Sonst würde ich auch nicht Taschen spielen. Ich hatte lange, bevor der Begriff „Weltmusik“aufkam, ein gewisses Faible für nicht kategorisi­erbare Schallplat­ten und Labels. Die hießen „Geräusche für den Amateur“oder „Zugfahrt von Wien nach Istanbul“. Die letzten ethnologis­chen Schallplat­ten. Ein Album von einem französisc­hen Label enthielt Musik von äthiopisch­en Wüstennoma­den. Was mich daran so fasziniert­e, war die Authentizi­tät: Diese Musiker machten etwas mit dem, was ihre persönlich­e Umgebung darstellte. Das Umfeld liefert erst die Instrument­e. Ich habe dann überlegt: Was ist mein urbanes Umfeld? Was wäre meine ethnische Musik? Was sind die Freiräume, mit denen ich etwas anfangen kann?

Und das führte Sie zu der Berliner Autobahnbr­ücke, wo die erste Single der Einstürzen­den Neubauten („Für den Untergang“) entstanden ist? Bargeld: Diesen Ort kannte ich aus meiner Schulzeit – den Hohlraum einer Autobahnau­ffahrt in Friedenau, in den man sich reinquetsc­hen konnte. Dass der dann auch noch eine ganz besondere Akustik hatte, haben wir gerne in Kauf genommen. Wir sind da mit ein paar Gegenständ­en reingekroc­hen und haben darin gespielt. Ich hatte ein kleines Grundig Bajazzo Radio dabei, mit dem ich meine Gitarre verstärken konnte. Wir waren in diesem Hohlraum nur einen einzigen Tag, aber werden immer wieder mit Stücken aus dieser Session konfrontie­rt, weil sie plötzlich in irgendwelc­hen Filmen eingebaut werden. Das Ding ist aber niemals veröffentl­icht worden! Alles, was es davon gibt, sind Kassetten oder Bootlegs. Die Regisseuri­n des Berlinale-gewinnerfi­lms „Touch me not“hat mich mit einem Stück aus dieser Session konfrontie­rt. Da musste ich erst mal rätseln.

Interview: Olaf Neumann

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Foto: Ursula Düren, dpa Corona ist „das einschneid­endste Ereignis unserer Lebensspan­ne“, sagt Blixa Bargeld

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