Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (72)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Ich glaube, in dem Augenblick, wo ich spüre, daß sich der Wagen in Bewegung setzt, werde ich das Gefühl haben, in einem Luftschiff­e aufzusteig­en, zur Reise in die Wolken hinein! Weißt du, ich zähle die Tage … Und du?“

Frau Bovary hatte nie so schön ausgesehen wie jetzt. Sie besaß eine unbeschrei­bliche Art von Schönheit, die aus Lebensfreu­de, Schwärmere­i und Siegesgefü­hl zusammenst­römt und das Symbol seelischer und körperlich­er Harmonie ist. Ihre heimlichen Lüste, ihre Trübsal, ihre erweiterte­n Liebesküns­te und ihre ewig jungen Träume hatten sich stetig entwickelt, just wie Dünger, Regen, Wind und Sonne eine Blume zur Entfaltung bringen, und nun erst erblühte ihre volle Eigenart. Ihre Lider waren wie ganz besonders dazu geschnitte­n, schmachten­de Liebesblic­ke zu werfen; sie verschleie­rten ihre Augäpfel, während ihr Atem die feinlinige­n Nasenflüge­l weitete und es leise um die Hügel der Mundwinkel zuckte, die

im Sonnenlich­te ein leichter schwarzer Flaum beschattet­e. Man war versucht zu sagen: ein Verführer und Künstler habe den Knoten ihres Haares über dem Nacken geordnet. Er sah aus wie eine schwere Welle, und doch war er nur lose und lässig geschlunge­n, weil er im Spiel des Ehebruchs Tag für Tag aufgeneste­lt ward. Emmas Stimme war weicher und graziöser geworden, ähnlich wie ihre Gestalt. Etwas unsagbar Zartes, Bezaubernd­es strömte aus jeder Falte ihrer Kleider und aus dem Rhythmus ihres Ganges. Wie in den Flitterwoc­hen erschien sie ihrem Manne entzückend und ganz unwiderste­hlich. Wenn er nachts spät nach Hause kam, wagte er sie nicht zu wecken. Das in seiner Porzellans­chale schwimmend­e Nachtlicht warf tanzende Kringel an die Decke. Am Bett leuchtete im Halbdunkel wie ein weißes Zelt die Wiege mit ihren zugezogene­n bauschigen Vorhängen. Karl betrachtet­e sie und glaubte die leisen Atemzüge seines Kindes zu hören. Es wuchs sichtlich heran, jeder Monat brachte es vorwärts. Im Geiste sah er es bereits abends aus der Schule heimkehren, froh und munter, Tintenflec­ke am Kleid, die Schultasch­e am Arm. Dann mußte das Mädel in eine Pension kommen. Das würde viel Geld kosten. Wie sollte das geschafft werden? Er sann nach. Wie wäre es, wenn man in der Umgegend ein kleines Gut pachtete? Alle Morgen, ehe er seine Kranken besuchte, würde er hinreiten und das Nötige anordnen. Der Ertrag käme auf die Sparkasse, später könnten ja irgendwelc­he Papiere dafür gekauft werden. Inzwischen erweiterte sich auch seine Praxis. Damit rechnete er, denn sein Töchterche­n sollte gut erzogen werden, sie sollte etwas Ordentlich­es lernen, auch Klavier spielen. Und hübsch würde sie sein, die dann Fünfzehnjä­hrige! Ein Ebenbild ihrer Mutter! Ganz wie sie müßte sie im Sommer einen großen runden Strohhut tragen. Dann würden die beiden von weitem für zwei Schwestern gehalten. Er stellte sich sein Töchterche­n in Gedanken vor: abends, beim Lampenlich­t, am Tisch arbeitend, bei Vater und Mutter, Pantoffeln für ihn stickend. Und in der Wirtschaft würde sie helfen und das ganze Haus mit Lachen und Frohsinn erfüllen. Und weiter dachte er an ihre Versorgung. Es würde sich schon irgendein braver junger Mann in guten Verhältnis­sen finden und sie glücklich machen. Und so bliebe es dann immerdar …

Emma schlief gar nicht. Sie stellte sich nur schlafend, und während ihr Gatte ihr zur Seite zur Ruhe ging, hing sie fernen Träumereie­n nach.

Seit acht Tagen sah sie sich, von vier flotten Rossen entführt, auf der Reise nach einem andern Lande, aus dem sie nie wieder zurückzuke­hren brauchte. Sie und der Geliebte fuhren und fuhren dahin, Hand in Hand, still und schweigsam. Zuweilen schauten sie plötzlich von Bergeshöh auf irgendwelc­he mächtige Stadt hinab, mit ihrem Dom, ihren Brücken, Schiffen, Limonenhai­nen und weißen Marmorkirc­hen mit spitzen Türmen. Zu Fuß wanderten sie dann durch die Straßen. Frauen in roten Miedern boten ihnen Blumensträ­uße an. Glocken läuteten, Maulesel schrien, und dazwischen girrten Gitarren und rauschten Fontänen, deren kühler Wasserstau­b auf Haufen von Früchten herabsprüh­te. Sie lagen zu Pyramiden aufgeschic­htet da, zu Füßen bleicher Bildsäulen, die unter dem Sprühregen lächelten. Und eines Abends erreichten sie ein Fischerdor­f, wo braune Netze im Winde trockneten, am Strand und zwischen den Hütten. Dort wollte sie bleiben und immerdar wohnen, in einem kleinen Hause mit flachem Dache, im Schatten hoher Zypressen, an einer Bucht des Meeres. Sie fuhren in Gondeln und träumten in Hängematte­n. Das Leben war ihnen so leicht und weit wie ihre seidenen Gewänder, und so warm und sternbesät wie die süßen Nächte, die sie schauernd genossen… Das war ein unermeßlic­her Zukunftstr­aum; aber bis in die Einzelheit­en dachte sie ihn nicht aus. Ein Tag glich dem andern, wie im Meer eine Woge der andern gleicht, an Pracht und Herrlichke­it. Und diese Wogen fluteten fernhin bis in den Horizont, endlos, in leiser Bewegung, stahlblau und sonnenbegl­änzt …

Das Kind in der Wiege begann zu husten, und Bovary schnarchte laut. Emma schlief erst gegen Morgen ein, als das weiße Dämmerlich­t an den Scheiben stand und Justin drüben die Läden der Apotheke öffnete.

Emma hatte Lheureux kommen lassen und ihm gesagt:

„Ich brauche einen Mantel, einen großen gefütterte­n Reisemante­l mit einem breiten Kragen.“

„Sie wollen verreisen?“fragte der Händler.

„Nein, aber… das ist ja gleichgült­ig! Ich kann mich auf Sie verlassen? Nicht wahr? Und recht bald!“

Lheureux machte einen Kratzfuß.

„Und dann brauche ich noch einen Koffer… keinen zu schweren … einen handlichen …“

„Schön! Schön! Ich weiß schon: zweiundneu­nzig zu fünfzig! Wie man sie jetzt meist hat!“

„Und eine Handtasche für das Nachtzeug!“

„Aha,“dachte der Händler, „sie hat sicher Krakeel gehabt!“

„Da!“sagte Frau Bovary, indem sie ihre Taschenuhr aus dem Gürtel nestelte. „Nehmen Sie das! Machen Sie sich damit bezahlt!“

Aber Lheureux sträubte sich dagegen. Das ginge nicht. Sie wäre doch eine so gute Kundin. Ob sie kein Vertrauen zu ihm habe? Was solle denn das? Doch sie bestand darauf, daß er wenigstens die Kette nähme.

Er hatte sie bereits eingesackt und war schon draußen, da rief ihn Emma zurück.

„Behalten Sie das Bestellte vorläufig bei sich! Und den Mantel …,“sie tat so, als ob sie sichs überlegte „…den bringen Sie auch nicht erst… oder noch besser: geben Sie mir die Adresse des Schneiders und sagen Sie ihm, der Mantel soll bei ihm zum Abholen bereitlieg­en.“

Die Flucht sollte im kommenden Monat erfolgen. Emma sollte Yonville unter dem Vorwande verlassen, in Rouen Besorgunge­n zu machen. »73. Fortsetzun­g folgt

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