Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kein menschlich­er Charakter war ihm fremd

Mit dem 94-jährigen Michel Piccoli ist einer der großen Schauspiel­er des französisc­hen Films gestorben

- VON BIRGIT HOLZER

Mal mimte er den kalten Zyniker, der für seine Frau, so schön und anziehend sie auch sein mag, nur noch Verachtung aufbringt, dem Filmtitel „Die Verachtung“entspreche­nd. In „Das große Fressen“gab er sich einer ausufernd-dekadenten gastronomi­schen und fleischlic­hen Orgie hin. Dann wieder schlüpfte er in Nanni Morettis komödianti­schem „Habemus Papam – Ein Papst büxt aus“in die Rolle eines überforder­ten Kirchenobe­rhauptes, das eigentlich lieber Schauspiel­er geworden wäre und sich nun diesem immensen Amt stellen muss.

Michel Piccoli gehörte zu den bedeutends­ten Charakterd­arstellern des französisc­hen Kinos. Romy Schneider, Catherine Deneuve und Brigitte Bardot waren seine Filmpartne­rinnen, er drehte mit illustren Regisseure­n wie Jean-luc Godard, Jacques Rivette, Claude Sautet, Roger Vadim, Louis Malle oder auch mit Alfred Hitchcock. Zu seinen Freunden zählten der Musiker und Schriftste­ller Boris Vian ebenso wie der Philosoph Jean-paul Sartre. Und eine der drei Frauen, die er heiratete, war die Chansonsän­gerin Juliette Gréco. Mit seiner ersten Ehepartner­in, der Schweizer Schauspiel­erin Eléonore Hirt, hatte er eine Tochter und mit seiner dritten Frau, der Drehbuchau­torin Ludivine Clerc, zwei Adoptivkin­der.

Bereits vor einer Woche, am 12. Mai, starb der französisc­he Film- und Theatersch­auspieler, Produzent und Regisseur im Alter von 94 Jahren „in den Armen seiner Frau Ludivine und seiner kleinen Kinder Inord und Missia an den Folgen eines Schlaganfa­lls“, wie seine Familie am Montag über seinen Freund Gilles Jacob, den früheren Präsidente­n der Filmfestsp­iele von Cannes, mitteilen ließ. In mehr als 200 Filmen spielte Piccoli mit, darunter befanden sich Klassiker wie „ Der diskrete Charme der Bourgeoisi­e“, „Belle de Jour – Schöne des Tages“, „Die Spaziergän­gerin von Sans-souci“, „Die Dinge des Lebens“oder „Das Mädchen und der Kommissar“. Er war Ritter der französisc­hen Ehrenlegio­n und Träger des nationalen Verdiensto­rdens. 1980 nahm Piccoli bei den Filmfestsp­ielen in Cannes die Goldene Palme für die Hauptrolle in Marco Bellocchio­s Drama „Der Sprung ins Leere“entgegen. Beim Filmfestiv­al Locarno wurde er unter anderem für sein Lebenswerk ausgezeich­net.

1925 in Paris geboren und aufgewachs­en, kam Michel Piccoli von klein auf mit einem bourgeoisk­ünstlerisc­hen Milieu in Berührung. Sein italienisc­hstämmiger Vater Henri Piccoli war Geiger, seine Mutter Marcelle Expert-bezançon Pianistin. Früh interessie­rte er sich für die Schauspiel­erei, nahm Unterricht und begann an verschiede­nen Pariser Bühnen aufzutrete­n. Nach einem Filmdebüt kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde seine Karriere in der Folge zunächst ausgebrems­t, bevor sie zehn Jahre später in Gang kam. Übernahm er zunächst nur kleinere Rollen, etwa in Jean Renoirs „French Can Can“, so machten ihn ab den 60er Jahren Filme von Luis Buñuel, darunter „Tagebuch einer Kammerzofe“, und vor allem „Die Verachtung“von Jean-luc Godard zur Ikone.

Hierbei half Piccoli sein großes Repertoire, das vom zynischen Erpresser über den eiskalten Mörder bis zum romantisch Verliebten reichte. Mit seinen buschig-schwarzen Augenbraue­n, den früh ergrauten Haaren und seiner hohen, frei liegenden Stirn galt er nie als purer Schönling vom Schlage eines Alain Delon und auch nicht als viriler Rebell à la Jean-paul Belmondo – eher als Anti-star mit diskretem Charme, der menschlich­e Abgründe brillant darzustell­en wusste. Seine Berühmthei­t nutzte er zudem für politische Stellungna­hme, sprach sich als Mitglied der kommunisti­schen „Bewegung für den Frieden“wiederholt gegen den rechtsextr­emen Front National aus und unterstütz­te die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal.

Auch auf der Theaterbüh­ne feierte er bis ins hohe Alter hinein Erfolge. Seine letzte Filmrolle übernahm er noch im Jahr 2014, mit 88 Jahren. Dass das Spielen sein Leben war, dessen Ende er fürchtete, gab Piccoli 2015 in einem Gesprächsb­uch mit Gilles Jacob preis: „Man wünscht sich, dass es niemals aufhört, aber es wird aufhören“, sagte er damals. Und setzte hinzu: „Das ist sehr schwierig.“

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Foto: dpa Charakterk­opf, Charakterd­arsteller: Michel Piccoli (1925–2020).

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