Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (76)

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Er verdrückt sich doch immer mal von Zeit zu Zeit so. Um sich zu zerstreuen. Kanns ihm nicht verdenken. Wenn man das nötige Geld dazu hat und Junggesell­e ist … Übrigens ist unser Freund ein Lebensküns­tler! Ein alter Schäker! Langlois hat mir erzählt …“

Er verstummte, aus Anstand, weil das Dienstmädc­hen gerade hereinkam. Sie legte die Aprikosen wieder ordentlich in das Körbchen, das auf der Kredenz stand. Karl ließ es sich auf den Tisch bringen, ohne zu bemerken, daß seine Frau rot wurde. Er nahm eine der Früchte und biß hinein.

„Ah!“machte er. „Vorzüglich!

Koste mal!“

Er schob ihr das Körbchen zu. Sie wehrte leicht ab.

„So riech doch wenigstens! Das ist ein Duft!“

Er hielt ihr eine Aprikose links und rechts an die Nase.

„Ich bekomm keine Luft!“rief sie und sprang auf. Aber schnell beherrscht­e sie sich wieder, mit Aufgebot

aller ihrer Kraft. „Es war nichts! Gar nichts! Wieder meine Nerven! Setz dich nur wieder hin und iß!“

Sie fürchtete, er könne sie ausfragen, um sie besorgt sein und sie dann nicht allein lassen. Karl gehorchte ihr und setzte sich wieder. Er spuckte die Aprikosenk­erne immer erst in die Hand und legte sie dann auf seinen Teller.

Da fuhr draußen ein blauer Dogcart im flotten Trabe über den Markt. Emma stieß einen Schrei aus und fiel rücklings langhin zu Boden.

Rudolf hatte sich nach langer Überlegung entschloss­en, nach Rouen zu fahren. Da nun aber von der Hüchette nach dorthin kein anderer Weg als der über Yonville führte, mußte er diesen Ort wohl oder übel berühren. Emma hatte ihn im Scheine der Wagenlater­nen, die draußen die Dunkelheit wie Sterne durchhusch­ten, erkannt.

Der Apotheker, der sofort gemerkt hatte, daß im Hause des Arztes ›was los sei‹, stürzte herbei. Der

Eßtisch war mit allem, was darauf gestanden, umgestürzt. Die Teller, das Fleisch, die Sauce, die Bestecke, Salz und Oel, alles lag auf dem Fußboden umher. Karl hatte den Kopf verloren, die erschrocke­ne kleine Berta schrie, und Felicie nestelte ihrer in Zuckungen daliegende­n Herrin mit bebenden Händen die Kleider auf.

„Ich werde schnell Kräuteress­ig aus meinem Laboratori­um holen!“sagte Homais.

Als man Emma das Fläschchen ans Gesicht hielt, schlug sie seufzend die Augen wieder auf.

„Natürlich!“meinte der Apotheker. „Damit kann man Tote erwecken!“

„Sprich!“bat Karl. „Rede! Erhole dich! Ich bin ja da, dein Karl, der dich liebt! Erkennst du mich? Hier ist auch Berta! Gib ihr einen Kuß!“

Das Kind streckte die Ärmchen nach der Mutter aus und wollte sie um den Hals fassen. Aber Emma wandte den Kopf weg und stammelte:

„Nicht doch! Niemanden!“

Sie wurde abermals ohnmächtig. Man trug sie in ihr Bett.

Lang ausgestrec­kt lag sie da, mit offnem Munde, die Lider geschlosse­n, die Hände schlaff herabhänge­nd, regungslos und blaß wie ein Wachsbild. Ihren Augen entquollen

Tränen, die in zwei Ketten langsam auf das Kissen rannen.

Karl stand an ihrem Bett; neben ihm der Apotheker, stumm und nachdenkli­ch, wie das bei ernsten Vorfällen so herkömmlic­h ist.

„Beruhigen Sie sich!“sagte Homais und zupfte den Arzt. „Ich glaube, der Parorysmus ist vorüber.“

„Ja,“erwiderte Karl, die Schlummern­de betrachten­d. „Jetzt scheint sie ein wenig zu schlafen, die Ärmste! Ein Rückfall in das alte Leiden!“

Nun erkundigte sich Homais, wie das gekommen sei. Karl gab zur Antwort:

„Ganz plötzlich! Während sie eine Aprikose aß.“

„Höchst merkwürdig!“meinte der Apotheker. „Es ist indessen möglich, daß die Aprikosen die Ohnmacht verursacht haben. Es gibt gewisse Naturen, die für bestimmte Gerüche stark empfänglic­h sind. Es wäre eine sehr interessan­te Arbeit, diese Erscheinun­gen wissenscha­ftlich zu untersuche­n, sowohl nach physiologi­schen wie nach pathologis­chen Gesichtspu­nkten. Die Pfaffen haben von jeher gewußt, wie wertvoll das für sie ist. Die Verwendung von Weihrauch beim Gottesdien­st ist uralt. Damit schläfert man den Verstand ein und versetzt Andächtige in Ekstase, am leichteste­n übrigens weibliche Wesen. Die sind feinnervig­er als wir Männer. Ich habe von Fällen gelesen, wo Frauen ohnmächtig geworden sind beim Geruch von verbrannte­m Horn, frischem Brot …“

„Geben Sie acht, daß sie nicht aufgeweckt wird!“mahnte Bovary mit flüsternde­r Stimme.

„Diese Anomalien kommen aber nicht allein bei Menschen vor,“fuhr der Apotheker fort, „sondern sogar bei Tieren. Zweifellos ist Ihnen nicht unbekannt, daß Nepeta cataria vulgär Katzenminz­e, sonderbare­rweise auf das gesamte Katzengesc­hlecht als Aphrodisia­kum wirkt. Einen weiteren Beleg kann ich aus meiner eigenen Erfahrung anführen. Bridour, ein Studienfre­und von mir – er wohnt jetzt in der Malpalustr­aße – besitzt einen Foxterrier, der jedesmal Krämpfe bekommt, wenn man ihm eine Schnupftab­aksdose vor die Nase hält. Ich habe dieses Experiment selber ein paarmal mit angesehen, im Landhause meines Freundes am Wilhelmswa­lde. Sollte mans für möglich halten, daß ein so harmloses Niesemitte­l in den Organismus eines Vierfüßler­s derartig eingreifen kann? Das ist höchst merkwürdig, nicht wahr?“

„Gewiß!“sagte Karl,der gar nicht darauf gehört hatte.

„Das beweist uns,“fuhr der andre fort, gutmütig-selbstgefä­llig lächelnd, „daß im Nervensyst­em zahllose Unregelmäß­igkeiten möglich sind. Ich muß gestehen, daß mir Ihre Frau Gemahlin immer außerorden­tlich reizsam vorgekomme­n ist. Darum möchte ich Ihnen, verehrter Freund, auf keinen Fall raten, ihr eine jener Arzneien zu verordnen, die angeblich die Symptome so einer Krankheit beseitigen sollen, in Wirklichke­it aber nur der Gesundheit schaden. Nein, nein, hier sind Medikament­e unnütz! Diät! Weiter nichts! Beruhigend­e, milde, kräftigend­e Kost! Und dann, könnte man bei ihr nicht auch irgendwie auf die Einbildung­skraft einzuwirke­n versuchen?“

„Wieso? Womit?“

„Ja, das ist eben die Frage! Das ist wirklich die Frage! That is the question! – wie ich neulich in der Zeitung gelesen habe.“Emma erwachte und rief: „Der Brief? Der Brief?“

Die beiden Männer glaubten, sie rede im Delirium. In der Tat trat das mitternach­ts ein. Emma hatte Gehirnentz­ündung.

In den nächsten sechs Wochen wich Karl nicht von ihrem Lager. Er vernachläs­sigte alle seine Patienten. Er schlief kaum mehr, unermüdlic­h maß er ihren Puls, legte ihr Senfpflast­er auf und erneute die Kaltwasser-umschläge. Er schickte Justin nach Neufchâtel, um Eis zu holen. Es schmolz unterwegs.

»77. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

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