Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Jesus, geboren 1908
Die Künstlerin Ilana Lewitan beschäftigt sich mit Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Für das Ägyptische Museum München hat sie eine provokante Installation geschaffen
München Einfach mal eine andere sein? Die Amerikanerin Cindy Sherman hat den Wechsel der Identität zum Prinzip ihrer Kunst erkoren. Über 40 Jahre ist das her – und bis heute nicht fad geworden. Im Gegenteil. Rollenspiele öffnen die Augen. Und dazu genügt bei Ilana Lewitan ein überschaubarer Würfel. In dem sitzt eine kleine Büste der Münchner Künstlerin, der „echten“sozusagen. Auf den Seitenflächen dieses „Cubes“hat sie sich als Muslimin im Tschador abgebildet, als schwarzes Rasta-girl oder als blauäugige Wasserstoff-blonde.
Der Würfel sticht ins Auge, denn er steht zwischen Rundskulpturen, vornehmlich von Herrschern und Autoritäten, im Museum Ägyptischer Kunst in München. Durch die ganze Schausammlung hindurch findet man Ilana Lewitans Interventionen. Mal ist es ein sehr persönlicher Kinderschuh neben 2000 Jahre alten Papyrussandalen, mal hat sich die Künstlerin in eine „Kennkarte“aus dem Deutschen Reich oder in einen israelischen Pass kopiert. Immer geht es um Identität und damit um Zugehörigkeit oder Ausgrenzung, und man darf diese oft kryptischen, nicht in jedem Fall glücklich platzierten Einwürfe auch als Hinführung auf die raumfüllende Installation „Adam, wo bist Du?“im Sonderausstellungssaal begreifen.
Dort fällt der erste Blick dann auch gleich auf die fatale Kernfrage: „Was wäre, wenn Jesus 1938 gelebt hätte?“Die Antwort sitzt den Besuchern überdeutlich im Nacken. Wer sich umdreht, sieht einen überdimensionalen „Schutzhaftbefehl“der Geheimen Staatspolizei hängen. „Die Gefährdung der Sicherheit des Volkes“wird einem gewissen „Jehoshua Israel ben Joseph“vorgeworfen, „geboren am 24. 12. 1908 in Nazareth, von Beruf Handwerker und Wanderprediger, ledig, staatenlos, Jude, wohnhaft in München und obdachlos“.
Am Ende, man weiß es seit 2000 Jahren, wird Jesus gekreuzigt – und fragt im Gespräch mit Gott „Adam, wo bist Du?“Ilana Lewitan zeigt einen über drei Meter hohen Korpus, der in eine Kz-häftlingsuniform gehüllt mit erhobenen Armen vor einem Kreuz aus Metallstreben und bedruckten Plexiglasscheiben schwebt. Das zweite der Zehn Gebote ist dort in allen möglichen Sprachen zu lesen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Das mag aufs Erste ziemlich plakativ daherkommen, zumal in einem Museum, das sich dem vielschichtigen Vermitteln kultureller Zusammenhänge verschrieben hat. Doch Lewitan, die als Malerin farbintensiver, rätselhafter Bilder bekannt wurde, öffnet das Spektrum weit über das Opfer Jesus und den Antisemitismus hinaus. „Wie es sich anfühlt, wenn man ausgeschlossen wird“, will sie vermitteln. Und von der Nationalität bis zum Geschlecht kann da einiges den Ausschlag geben. Manchmal genügt es, zur falschen Zeit zu leben.
Sie sei keine sechzehn Jahre nach der sogenannten „Endlösung der
Judenfrage“in der ehemaligen „Stadt der Bewegung“geboren, sagt Ilana Lewitan, die Tochter von zwei Überlebenden der Schoah. Ihre Mutter konnte der Deportation aus dem Warschauer Getto entkommen, der Vater floh aus einem polnischen Schtetl nahe der russischen Grenze und schlug sich Ewigkeiten in Todesangst durch die Wälder. Die tragischen Erfahrungen der Eltern prägen bis heute die Gefühlswelt der Künstlerin und selbstredend auch ihre Kunst.
Seit sieben Jahren feilt sie am Konzept der Installation, sprach mit Zeitzeugen wie der 2019 verstorbenen ungarischen Intellektuellen Ágnes Heller („Der kompromisslose, rebellische, radikal freundschaftliche Jesus würde zu allen Zeiten verurteilt werden“) oder mit Henry G. Brandt, dem ehemaligen Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-augsburg, der Kluges zum Kreuz äußert. Und natürlich fielen Ilana Lewitan im Verlauf ihrer Arbeit mehr und mehr Menschen auf, die Ausgrenzung oder Diskriminierung erfahren. Das reicht von der Fotokünstlerin Bela Adriana Raba, die als Mann geboren wurde, sich aber immer schon als Frau fühlte, bis zu einer jesidischen Kurdin, die als Teufelsanbeterin angefeindet wurde.
Ihre Geschichten kann man nun im Haus für die altägyptische Kultur mitten im Münchner Kunstareal nachhören, umspült von den dräuenden Raumklängen des Komponisten Philippe Cohen Solal (unter anderem mit Dirigent Omer Meir Wellber am Akkordeon). Für Ilana Lewitan ist das der ideale Ort. In diesem Viertel hatte die NSDAP ihr Machtzentrum eingerichtet, und der Grund, auf dem heute das Museum steht, war einst für einen Kanzleibau der Partei vorgesehen. Rund um den Königsplatz wurde zwölf Jahre lang entschieden, wer zur Gesellschaft gehört und wer nicht. Dafür hat Ilana Lewitan dann auch ein sehr eindringliches Bild für ihren Denkraum gefunden: Ganz unterschiedliche Stühle sind zusammengeworfen, rustikale Exemplare aus der Bauernstube, Hocker, Stühle mit gebrochenem Bein, Sessel ohne Polster. Die Farbe der Eintrittskarte weist dem Besucher ein Möbel zu, und wer nicht zum Sitzen kommt, hat Pech gehabt.
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„Adam, wo bist Du?“Bis 10. Januar im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst München, geöffnet Dienstag von 10 bis 20 Uhr, Mittwoch bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr.