Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kann sich Srebrenica wiederhole­n?

Das Massaker in Bosnien-herzegowin­a gilt als schlimmste­s Kriegsverb­rechen auf europäisch­em Boden seit 1945. Nie wieder, hieß es danach. Der Balkan-experte Bernhard Stahl zieht jedoch 25 Jahre später eine bittere Bilanz

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Der Zerfall Jugoslawie­ns, die blutigen Folgekrieg­e und schließlic­h das Massaker von Srebrenica, das sich in diesen Tagen zum 25. Mal jährt – eine Kette politische­r Dramen und humanitäre­r Katastroph­en, die im internatio­nalen Gedächtnis langsam zu verblassen drohten. Es war eine Entscheidu­ng des Nobelpreis­komitees, die den so blutigen wie komplizier­ten Konflikt unverhofft zurück auf die Weltbühne brachte. Als der österreich­ische Autor Peter Handke im Dezember 2019 den Nobelpreis für Literatur entgegenna­hm, zeigte sich, wie tief und offen die Wunden, die der Krieg gerissen hat, nach wie vor sind. Die Bilder von den wütenden Protesten in Stockholm und vor allem in Bosnien-herzegowin­a gegen die Auszeichnu­ng des Schriftste­llers, der auf Grund seiner pro-serbischen Haltung heftig umstritten ist, gingen um die Welt.

Die Schrunden und Verwerfung­en, die Gräben zwischen Opfern und Tätern, die sich wechselsei­tig als Täter und Opfer sehen, sind tief. Die Grenzen sind fließend: „Es gibt beides: Eine große kulturelle Verbundenh­eit unter den Menschen in den Balkan-staaten, aber auch einen unglaublic­h starken Nationalis­mus, der – wie in Serbien – auch gepflegt wird“, sagt der Professor für internatio­nale Politik an der Universitä­t Passau, Bernhard Stahl, unserer Redaktion im Gespräch. Und es gibt natürlich unermessli­ches Leid, das Familien zerstört hat und bis heute nachwirkt. Das Massaker im ehemaligen Kurbad Srebrenica mit rund 8300 Opfern gilt als größtes Verbrechen gegen die Menschlich­keit in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Blutbad versetzte dem Glauben, dass sich solche Kriegsverb­rechen nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa nicht mehr wiederhole­n könnten, einen Todesstoß. Die Ereignisse waren medial allgegenwä­rtig. „Damals wurde über die Ereignisse auf dem Balkan im Fernsehen viel ausführlic­her berichtet als heute aus Syrien“, erinnert sich Stahl, der einige Zeit in Serbien lebte und arbeitete.

Wie konnte es soweit kommen? Der Untergang Jugoslawie­ns war auf allen Seiten von Hass und Konflikten begleitet. Nicht nur Serben und Kroaten, auch Slowenen, Bosnier, Mazedonier und Kosovaren wollten sich einen möglichst großen Anteil an der Konkursmas­se sichern. Ab 1992 sprachen die Waffen. Verschiede­ne regionale, zum Teil mit äußerster Brutalität geführte Kriege, erschütter­ten den Balkan. Dann kam der Juli 1995: Obgleich Srebrenica im Osten Bosnien-herzegowin­as in einer von den UN ausgewiese­nen Schutzzone lag, wurde um die Stadt gekämpft. Das war besonders brisant, weil dort mehr als 50000 Einwohner, Flüchtling­e und Kämpfer unter katastroph­alen Verhältnis­sen ausharrten.

Bosnische Milizen feuerten zunächst aus der Stadt heraus auf serbische Stellungen. Dies nahmen der Kommandeur der serbischen Truppen, Ratko Mladic, und der berüchtigt­e politische Führer, Radovan Karadzic, zum Anlass, Vergeltung zu üben. Sie taten dies mit berechnend­er Kühle: Denn während europäisch­e Vermittler und Emissäre der USA und Russland über einen Friedensve­rtrag verhandelt­en, sahen die bosnischen Serben in dem Konflikt um Srebrenica die Chance, Fakten zu schaffen. Sie wollten einen Staat in Bosnien schaffen, in dem nur Serben eine Heimat haben. Im Wege waren diesen Plänen die Muslime, die dort lebten. Um den 9. Juli herum brachten die Serben die Stadt unter ihre Kontrolle. Die niederländ­ischen Blauhelmtr­uppen sahen das Unheil kommen: Vergeblich forderte Kommandeur Thomas Karremans Luftunters­tützung durch Nato-verbände an. Heute wirft man den Niederländ­ern vor, dem Massaker tatenlos zugesehen zu haben. Das ärgert Stahl: „Die Kritik ist wohlfeil und unfair. Gerade wenn sie aus Deutschlan­d, das gar keine Soldaten zur Verfügung gestellt hat, kommt. Die Niederländ­er hatten militärisc­h keine Chance, die Serben zu stoppen.“

Mehr als 23 000 Bosnier, überwiegen­d Muslime, suchten Schutz im nahen Ort Potocari. Doch das war eine tödliche Sackgasse. Ermittlung­en ergaben, dass am späten Abend des 11. Juli die Entscheidu­ng fiel, männliche Bosnier jeden Alters zu ermorden. Unvergesse­n ist der Auftritt von Mladic, der den Flüchtling­en versichert­e: „Habt keine Angst, keiner wird euch was tun.“Die grausame Realität war, dass in den Tagen danach eine Welle systematis­cher Liquidatio­nen einsetzte. Was aber hat die Völkergeme­inschaft aus diesem beispiello­sen Verbrechen gelernt? Erst einmal sehr viel, sagt Bernhard Stahl: „Es gab sehr positive Lernprozes­se: Wir haben politische Lernfähigk­eit im Kosovo-krieg 1999, der früh beendet werden konnte, gesehen. Wir haben auf der rechtlich-politische­n Seite mit der Schutzvera­ntwortung neue internatio­nale Normen in den Vereinten Nationen entwickelt und wir haben mit dem Jugoslawie­ntribunal und in der Folge mit dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof 2002 neue Instrument­e bekommen.“

Auch wenn einige der schlimmste­n Verbrecher, wie Mladic und Karadzic, vom Un-kriegsverb­rechertrib­unal in Den Haag verurteilt wurden – der Optimismus, dass es heute Werkzeuge gibt, um Despoten, Hetzern und Kriegsverb­rechern in den Arm zu fallen, ist Stahl abhandenge­kommen. „Mit Blick auf die letzten zehn Jahre müssen wir leider feststelle­n, dass all diese hoffnungsv­ollen Prozesse abgebroche­n sind. Heute passieren in Syrien ähnliche Dinge wie damals in Jugoslawie­n, ohne dass der Westen entschloss­en eingreift.“Nach Jugoslawie­n habe man immerhin noch Blauhelme geschickt, in Syrien ziehen sich mutige Einheimisc­he, die Opfer von Luftangrif­fen aus den rauchenden Trümmern zerren, weiße Helme auf.

Das Fazit des Wissenscha­ftlers fällt bitter aus: „Man könnte auch ganz zynisch sagen: Wir warten auf den nächsten Völkermord und dann schauen wir mal, ob wir wieder etwas lernen.“

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Foto: dpa In einem Wald von Gräbern: Eine Muslimin sucht ihre Angehörige­n.

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