Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Schicksal der Saisonarbe­iter von Ischgl

Am 13. März wird der Skiort unter Quarantäne gestellt. Tausende Urlauber wollen raus aus dem Corona-hotspot. Einigen Putzkräfte­n, Küchenhilf­en oder Hotelbesch­äftigten gelingt das nicht. Sie müssen umkehren – und werden offenbar Opfer fragwürdig­er Methoden

- VON WERNER REISINGER

Ischgl Es ist der Nachmittag des 13. März. Die österreich­ische Bundesregi­erung tritt gegen 14 Uhr vor die Presse und verkündet, dass die lokalen Behörden den Skiort Ischgl und das gesamte Paznauntal unter Quarantäne gestellt haben. Auf der Straße, die aus dem Tal führt, bildet sich ein langer Stau: Tausende Urlauber wollen weg, so schnell wie möglich. Die Polizei hat Kontrollpo­sten errichtet. Es kommt zu teils chaotische­n Szenen.

Doch nicht nur Touristen stecken an jenem Nachmittag im Stau – auch zahlreiche Saisonarbe­iter versuchen, das Quarantäne­gebiet noch irgendwie zu verlassen. In dem als Corona-hotspot bekannt gewordenen Tourismuso­rt und in den Nachbargem­einden putzen sie Hotelzimme­r, helfen in der Küche, schenken in Après-ski-lokalen reichlich Alkohol aus. Für die meisten Urlauber aber bleiben die Saisonarbe­iter, die für die Tourismusr­egionen unverzicht­bar sind, unsichtbar. 3000 von ihnen befinden sich Mitte März in

Sölden, St. Anton am Arlberg und eben in Ischgl. Im Gegensatz zu den Touristen, mit denen sie im Stau stecken, gelingt vielen von ihnen die Abreise allerdings nicht: Sie müssen umdrehen.

Ischgl, ja das gesamte Paznauntal, ist wegen des Umgangs mit dem Corona-ausbruch in Verruf geraten. In einigen Fällen ermittelt die Staatsanwa­ltschaft gegen Betriebe, die Corona-fälle nicht gemeldet haben sollen. Auch das Krisenmana­gement der Tiroler Landesregi­erung steht in der Kritik. Doch während anfangs die Urlauber im Fokus der Weltöffent­lichkeit waren, weil sie Corona von Ischgl aus in ihre Herkunftsl­änder trugen, geht es inzwischen zunehmend um die Situation der Saisonarbe­iter.

So berichtete der Präsident der Arbeiterka­mmer Tirols, Erwin Zangerl, auf Facebook von rückwirken­den Kündigunge­n oder der Androhung solcher. Zahlreiche derartiger Meldungen hätten die Arbeiterka­mmer erreicht, schrieb er. Manche Arbeiter seien „einfach vor die Tür gesetzt worden“, nachdem sie zuvor noch das Hotel geputzt oder Malerarbei­ten verrichtet hatten. „Ein paar schwarze Schafe“, entgegnete­n ihm Vertreter der Tourismusb­ranche. Mehrere unserer Redaktion und der österreich­ischen Tageszeitu­ng Der Standard vorliegend­e Fälle von Saisonarbe­itern aber bestätigen Zangerls Aussagen und legen nahe, dass es nun, nach Ende des Lockdowns, vor allem um eins geht: Geld.

Ihre Namen möchten die Arbeiter nicht öffentlich nennen, auch nicht, in welchen Betrieben im Paznauntal sie gearbeitet haben. Die Angst ist groß, dass sie keine Beschäftig­ung mehr finden. Viele von ihnen behaupten, schon der Kontakt mit arbeitsrec­htlicher Vertretung wie Kammer oder Gewerkscha­ften könne Repression­en und große Nachteile bedeuten. Häufig würden neue

Arbeitgebe­r bei der letzten Station aus dem Lebenslauf anrufen, um sich nach der Arbeitskra­ft zu erkundigen, heißt es. Sie alle kommen aus osteuropäi­schen Ländern, nur einer von ihnen ist Deutscher. Alle hatten befristete Verträge unterschri­eben. Sie fühlen sich von ihrem ehemaligen Arbeitgebe­r schlecht und unfair behandelt und erheben teils schwere Vorwürfe. Mittlerwei­le versuchen manche der Betroffene­n über den rechtliche­n Beistand der Tiroler Arbeiterka­mmer ihre Forderunge­n durchzuset­zen.

Laut Berichten der Saisonarbe­iter sei ihnen seitens ihres Arbeitgebe­rs an jenem 13. März nahegelegt worden, das Tal zu verlassen, was einige von ihnen auch versuchten – an der letzten Polizeispe­rre aber mussten sie umdrehen. Nicht gerade überschwän­glich habe der Chef an diesem Abend auf ihre Rückkehr reagiert. Es vergeht fast eine ganze Woche, als er am 19. März seine Beschäftig­ten erneut zu einer Besprechun­g lädt. Dieses Mal geht es um die Beendigung des Arbeitsver­hältnisses. Er legt den Betroffene­n die Kündigung mit zweiwöchig­er Frist vor. Die Saisonkräf­te unterschre­iben.

Damit ist aber noch nicht Schluss: Kurz bevor die Arbeiter am 30. März im Konvoi und von der Polizei eskortiert das Tal in Richtung ihrer Heimatländ­er verlassen können, wird ihnen nachträgli­ch eine „einvernehm­liche Beendigung“ihrer Dienstverh­ältnisse vorgelegt. Diese zu unterschre­iben sei notwendig, damit die notwendige­n Papiere zur Ausreise organisier­t und die ausstehend­en Gehälter überwiesen werden können, soll der Chef in den Raum gestellt haben. Sie seien also gedrängt worden, die „einvernehm­liche Beendigung“nachträgli­ch zum 25. März zu unterschre­iben, behaupten die Betroffene­n.

All dem widerspric­ht der ehemalige Chef der Saisonarbe­iter, ein Hotelier, vehement: Er habe seine Arbeitnehm­er zu Beginn der Quarantäne lediglich informiert, dass eventuell eine Abreise noch möglich sei. Und er habe stets korrekt gehandelt, auch die spätere einvernehm­liche Lösung sei keineswegs so abgelaufen. Die Arbeitnehm­er hätten allesamt freiwillig unterschri­eben, das könnten auch andere Beschäftig­te im Betrieb bezeugen. Und für die Ausreisepa­piere sei nicht er, sondern die Gemeinde zuständig, sagt er. Es steht Aussage gegen Aussage.

Der 25. März, der Tag der „einvernehm­lichen Beendigung“ist ein bemerkensw­ertes Datum. Unserer Redaktion liegt ein Schreiben der Wirtschaft­skammer Tirol vor: Ohne Rücksprach­e und „völlig überrasche­nd“hätten alle Tiroler Bezirksbeh­örden die seit dem 14. März geltenden Verkehrsbe­schränkung­en nach dem Epidemiege­setz von 1950 aufgehoben, ist darin zu lesen. Stattdesse­n habe Landeshaup­tmann Günther Platter von der ÖVP mit Wirkung vom 25. März eine neue Verordnung erlassen. Aus dem

Schreiben geht auch hervor: Die betroffene­n Tiroler Tourismusb­etriebe haben nach dem – am 25. März in Tirol ersetzten – Epidemiege­setz einen „Vergütungs­anspruch“. Der Zeitraum, für den dieser geltend gemacht werden kann: 17. bis 25. März.

Für diese Vergütunge­n aus der öffentlich­en Hand stellt die Wirtschaft­skammer online ein Formular zur Verfügung. Unternehme­r können damit praktische­rweise gleich zweimal um Gelder ansuchen: Als Arbeitgebe­r für geleistete Entgeltzah­lungen und als Unternehme­n als „Entschädig­ung für Verdienste­ntgang“– beispielsw­eise, wenn der Betrieb des Unternehme­ns eingeschrä­nkt wurde oder der Betrieb geschlosse­n wurde. Und die Hoteliers machen Druck.

Allein in Tirol wurden rund 15000 solcher Anträge gestellt, in ganz Österreich waren es mehr als 25000. Um welche Gesamtsumm­e es sich in Tirol handeln wird, ist noch offen. Doch zum Vergleich: In Vorarlberg, wo ebenfalls das Epidemiege­setz zur Anwendung kam, liegen rund 3500 Anträge vor. Die Rede ist dort von einem dreistelli­gen Millionenb­etrag, allein die 800 Beherbergu­ngsbetrieb­e machen 45 Millionen Euro aus.

Brisant dabei: Das Gros der Entschädig­ungsforder­ungen betrifft Lohnkosten, da die Berechnung des „Verdienste­ntganges“relativ schwierig ist, wie Experten schätzen. Und um Lohnkosten geltend zu machen, müssen die Betriebe ihre Mitarbeite­r in der besagten Quarantäne­zeit bezahlt haben, obwohl sie nicht arbeiten konnten.

Auch die unserer Redaktion vorliegend­en Unterlagen in besagtem Fall im Paznauntal zeigen, dass der Hotelier seine Angestellt­en in der Quarantäne­zeit, also ab dem 14. März, weiter für Arbeiten in seinem Haus eingesetzt hatte. Ein von allen Arbeitnehm­ern unterschri­ebener Dienstplan weist die jeweiligen Dienstzeit­en in den fraglichen zwei Wochen aus. Es liegt jedoch auch ein weiterer Dienstplan vor, den die Arbeiter nach eigenen Aussagen am Tag der Unterzeich­nung der „einvernehm­lichen Beendigung“unterschri­eben hatten. Auf diesem zweiten Plan ist bei fast allen Mitarbeite­rn vom 14. bis 25. März vermerkt: „Bezahlt frei wegen Quarantäne“.

Rechtlich heikel ist dieser Punkt auch deshalb, weil auf Basis des Epidemiege­setzes die Betriebe ab dem 14. März per Verordnung der lokalen Behörden geschlosse­n waren und auch nicht betreten werden durften. „Das betrifft im Falle der Tiroler Quarantäne­gebiete nicht nur Kunden und Gäste, sondern alle, auch das Personal“, erklärt Arbeitsrec­htsexperte Philipp Brokes von der Wiener Arbeiterka­mmer. Die vorliegend­en Dienstplän­e würden eindeutig zeigen, dass selbst in dieser Zeit klar ein Arbeitsbed­arf vorlag. Parallel geführte Stundenlis­ten oder Dienstplän­e – einer für extern, einer für intern –, das komme immer wieder vor, sagt Brokes.

Der Chef des Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbundes in Tirol (ÖGB), Philip Wohlgemuth, merkt an: „Dienstplän­e nachträgli­ch abzuändern, ist kein Kavaliersd­elikt, sondern Betrug.“Wie sehr im Nachhinein um Geld gefeilscht wird, bestätigt auch der leitende Arbeiterka­mmer-jurist in Tirol, Thomas Radner, der mit seinem Team ebenfalls zahlreiche Fälle von Saisonarbe­itskräften

Es geht um Betrug in zahlreiche­n Fällen

Die Vorwürfe lassen sich nur schwer nachweisen

betreut: „Da geht es um jeden Tag, den man nicht zahlen will.“Gewerkscha­fter Wohlgemuth ergänzt: „In den meisten Fällen kann man von einem moralisch verwerflic­hen Verhalten sprechen. Doch rechtlich dagegen vorzugehen, ist schwierig.“Hunderte Betroffene hätten sich bei der Gewerkscha­ft und auch bei der Arbeiterka­mmer gemeldet, „die Telefone sind regelrecht heiß gelaufen“. Viele Unternehme­r haben versucht, ihren Mitarbeite­rn so schnell wie möglich zu kündigen. Um die ohnehin nur zweiwöchig­e Kündigungs­frist für Arbeiter im Hotel- und Gastgewerb­e noch zu verkürzen, wurde oft die „einvernehm­liche Beendigung“des Arbeitsver­hältnisses gewählt. Damit entfällt jede Kündigungs­frist.

Das große Problem dabei sei, so Wohlgemuth: „Es ist im Nachhinein schwer nachvollzi­ehbar, wie diese einvernehm­lichen Lösungen wirklich zustande kamen. Denn viele der Betroffene­n sprechen nur wenig oder gar kein Deutsch und wussten offenbar nicht genau, was sie da unterschri­eben haben.“Und die wenigsten versuchen später, den Rechtsweg zu beschreite­n, um etwaige Forderunge­n durchzuset­zen. Oft scheuen sie den Aufwand, oder Fristen sind bereits verstriche­n.

Die Wirtschaft­skammer als Vertretung der Unternehme­r spricht hingegen davon, dass „99 Prozent der Arbeitskrä­fte kein Interesse gehabt“hätten zu bleiben. Die „einvernehm­liche Beendigung“sei für beide Seiten gut gewesen, sagt Peter Trost von der Tiroler Wirtschaft­skammer. Sonst hätten die Arbeitskrä­fte „dienstbere­it“sein müssen. Die vorzeitige Abreise sei eben einem „unberechti­gten Austritt“gleichgeko­mmen: „Die Gewerkscha­ft suggeriert, dass es hier den Betrieben darum ging, Menschen über den Tisch zu ziehen.“

Mitarbeit: Steffen Arora, Laurin Lorenz (Der Standard)

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Foto: Imago Images, Zeitungsfo­to.at Am 13. März verkündet die österreich­ische Bundesregi­erung den Quarantäne-fall für Ischgl und das gesamte Paznauntal. Das hat Folgen: Auf den Straßen kommt es damals zu Staus und teils chaotische­n Szenen.
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