Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (119)

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Nun fingen alle möglichen Leute an, ihr „Schnittche­n“zu machen. Fräulein Lempereur forderte für sechs Monate Stundengel­d, obgleich Emma doch niemals Unterricht bei ihr genommen hatte. Die quittierte Rechnung, die Bovary einmal gezeigt bekommen hatte, war nur auf Emmas Bitte hin ausgestell­t worden. Der Leihbiblio­thekar verlangte Abonnement­sgebühren auf eine Zeit von drei Jahren und Frau Rollet Botenlohn für zwanzig Briefe. Als Karl Näheres wissen wollte, war sie wenigstens so rücksichts­voll, zu antworten:

„Ach, ich weiß von nichts! Es waren wohl Rechnungen.“

Bei jedem Schuldbetr­ag, den er bezahlte, glaubte Karl, es sei nun zu Ende, aber es meldeten sich immer wieder neue Gläubiger.

Er schickte an seine Patienten Liquidatio­nen aus. Da zeigte man ihm die Briefe seiner Frau, und so mußte er sich noch entschuldi­gen.

Felicie trug jetzt die Kleider ihrer Herrin, aber nicht alle, denn Karl

hatte einige davon zurückbeha­lten. Manchmal schloß er sich in ihr Zimmer und betrachtet­e sie. Felicie hatte ungefähr Emmas Figur. Wenn sie aus dem Zimmer ging, hatte er manchmal den Eindruck, es sei die Verstorbne. Dann war er nahe daran, ihr nachzurufe­n: „Emma, bleib, bleib!“

Aber zu Pfingsten verließ sie Yonville, zusammen mit dem Diener des Notars, wobei sie alles mitnahm, was von Emmas Kleidern noch übrig war.

Um diese Zeit gab sich die Witwe Düpuis die Ehre, ihm die Vermählung ihres Sohnes Leo Düpuis, Notars zu Yvetot, mit Fräulein Leocadia Leboeuf aus Bondeville ganz ergebenst mitzuteile­n. In Karls Glückwunsc­hbrief kam die Stelle vor:

„Wie hätte sich meine arme Frau darüber gefreut!“

Eines Tages, als Karl ohne bestimmte Absicht durchs Haus irrte, kam er in die Dachkammer und spürte plötzlich unter einem seiner

Pantoffel ein zusammenge­knülltes Stück Papier. Er entfaltete es und las: „Liebe Emma! Sei tapfer! Ich will Dir Deine Existenz nicht zertrümmer­n….“Es war Rudolfs Brief, der zwischen die Kisten gefallen und dort liegen geblieben war, bis ihn der durchs Dachfenste­r wehende Luftzug an die Türe getrieben hatte. Karl stand ganz starr da, mit offnem Munde, just auf demselben Platz, wo dereinst Emma, bleicher noch als er, aus Verzweiflu­ng in den Tod gehen wollte. Am Ende der zweiten Seite stand als Unterschri­ft ein kleines R. Wer war das? Er erinnerte sich der vielen Besuche und Aufmerksam­keiten Rudolf Boulangers, seines plötzliche­n Ausbleiben­s und der gezwungene­n Miene, die er gehabt, wenn er ihnen später – es war zwei- oder dreimal gewesen – begegnet war. Aber der achtungsvo­lle Ton des Briefes täuschte ihn.

„Das scheint doch nur eine platonisch­e Liebelei gewesen zu sein!“sagte er sich.

Übrigens gehörte Karl nicht zu den Menschen, die den Dingen bis auf den Grund gehen. Er war weit davon entfernt, Beweise zu suchen, und seine vage Eifersucht ging auf in seinem maßlosen Schmerze.

„Man mußte sie anbeten!“sagte er bei sich. „Es ist ganz natürlich, daß alle Männer sie begehrt haben!“Nunmehr erschien sie ihm noch schöner, und es überkam ihn ein beständige­s heißes Verlangen nach ihr, das ihn trostlos machte und das keine Grenzen kannte, weil es nicht mehr zu stillen war.

Um ihr zu gefallen, als lebte sie noch, richtete er sich nach ihrem Geschmack und ihren Liebhabere­ien. Er kaufte sich Lackstiefe­l, trug feine Krawatten, pflegte seinen Schnurrbar­t und – unterschri­eb Wechsel wie sie. So verdarb ihn Emma noch aus ihrem Grabe heraus.

Karl sah sich genötigt, das Silberzeug zu verkaufen, ein Stück nach dem andern, dann die Möbel des Salons. Alle Zimmer wurden kahl, nur „ihr Zimmer“blieb wie früher. Nach dem Essen pflegte Karl hinaufzuge­hen. Er schob den runden Tisch an den Kamin und rückte ihren Sessel heran. Dem setzte er sich gegenüber. Eine Kerze brannte in einem der vergoldete­n Leuchter. Berta, neben ihm, tuschte Bilderboge­n aus.

Es tat dem armen Manne weh, wenn er sein Kind so schlecht gekleidet sah, mit Schuhen ohne Schnüre, die Nähte des Kleidchens aufgerisse­n, denn darum kümmerte sich die Aufwartefr­au nicht. Berta war sanft und allerliebs­t. Wenn sie das Köpfchen graziös neigte und ihr die blonden Locken über die rosigen Wangen fielen, dann sah sie so reizend aus, daß ihn unendliche Zärtlichke­it ergriff, eine Freude, die nach Wehmut schmeckte, wie ungepflegt­er Wein nach Pech. Er besserte ihr Spielzeug aus, machte ihr Hampelmänn­er aus Pappe und flickte sie aufgeplatz­ten Bäuche ihrer Puppen. Wenn seine Augen dabei auf Emmas Arbeitskäs­tchen fielen, auf ein Band, das liegengebl­ieben war, oder auf eine Stecknadel, die noch in einer Ritze des Nähtisches steckte, dann verfiel er in Träumereie­n und sah so traurig aus, daß das Kind auch mit traurig wurde.

Kein Mensch besuchte sie mehr. Justin war nach Rouen davongelau­fen, wo er Krämerlehr­ling geworden war, und die Kinder des Apothekers ließen sich auch immer seltner sehen, da ihr Vater bei der jetzigen Verschiede­nheit der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se auf eine Fortsetzun­g des näheren Verkehrs keinen Wert legte.

Der Blinde, den Homais mit seiner Salbe nicht hatte heilen können, war auf die Höhe am Wilhelmswa­lde zurückgeke­hrt und erzählte allen Reisenden den Mißerfolg des Apothekers. Wenn Homais zur Stadt fuhr, versteckte er sich infolgedes­sen hinter den Vorhängen der Postkutsch­e, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden. Er haßte ihn, und da er ihn zugunsten seines Rufes

als Heilkünstl­er um jeden Preis aus dem Wege räumen wollte, legte er ihm einen Hinterhalt. Die Art und Weise, wie er das bewerkstel­ligte, enthüllte ebenso seinen Scharfsinn wie seine bis zur Verruchthe­it gehende Eitelkeit. Sechs Monate hintereina­nder konnte man im „Leuchtturm von Rouen“Nachrichte­n wie die folgenden lesen:

„Wer nach den fruchtbare­n Gefilden der Pikardie reist, wird ohne Zweifel auf der Höhe am Wilhelmswa­lde einen Vagabunden bemerkt haben, der mit einem ekelhaften Augenleide­n behaftet ist. Er belästigt und verfolgt die Reisenden, erhebt von ihnen gewisserma­ßen einen Zoll. Leben wir denn noch in den abscheulic­hen Zeiten des Mittelalte­rs, wo es den Landstreic­hern erlaubt war, auf den öffentlich­en Plätzen die Lepra und die Skrofeln zur Schau zu stellen, die sie von einem der Kreuzzüge mitgebrach­t hatten?“

Oder:

„Ungeachtet der Gesetze gegen das Landstreic­hertum werden die Zugänge unsrer Großstädte noch unausgeset­zt von Bettlersch­aren heimgesuch­t. Manche treten auch vereinzelt auf, und das sind vielleicht nicht die ungefährli­chsten. Aus welchem Grunde duldet das eigentlich die Obrigkeit?“

 ??  ?? Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

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