Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ohne Rituale geht es nicht

Wie sie der Gesellscha­ft Struktur geben

- VON GERLINDE KNOLLER

Ein Händedruck, eine herzliche Umarmung – in diesen Zeiten sind die so vertrauten Begrüßungs­rituale weggefalle­n. Was bedeuten solche Rituale den Menschen, warum braucht eine Gesellscha­ft Rituale? Darüber sprach auf der Sommerbühn­e im Annahof Barbara Staudinger, Leiterin des Jüdischen Kulturmuse­ums Augsburg- Schwaben, mit Barbara Stollberg-rilinger, Rektorin am Berliner Wissenscha­ftskolleg, die als Historiker­in auch über Rituale geforscht hat. Der Abend war Teil des Rahmenprog­ramms zum Friedensfe­st. Was die Begrüßungs­rituale betrifft, so wies Stollwerk-rilinger darauf hin, dass sich alle Rituale mit der Zeit verändern. Auch die Formen des Beisammens­eins. So merke man jetzt, nachdem man in Corona-zeiten vorwiegend digital zusammenka­m, „wie wesentlich die persönlich­e Anwesenhei­t anderer Menschen in einem Raum ist“.

Die Grundaussa­ge dieses Abends war: Eine Gesellscha­ft kommt ohne Rituale nicht aus. Weil sie dem Leben Struktur geben, von den kleinen Alltagsrit­ualen angefangen, bis hin zu den großen religiösen Riten. Rituale nehmen Entscheidu­ngen ab. „Ohne sie hätte man unendlich viele Wahlmöglic­hkeiten“, meinte Barbara Stollberg-rilinger. Bei der Taufe oder Beschneidu­ng – alles Initiation­srituale – werde der einzelne Mensch in eine Gemeinscha­ft, in eine größere Ordnung aufgenomme­n.

Als kraftvolle­s Ritual nannte Barbara Stollberg-rilinger das „Ja“bei der Eheschließ­ung. Dieses „schlichte Ja-wort“verändere die Situation, wirke wie ein Zauberspru­ch. „Durch solche soziale Magie bekommt eine Gesellscha­ft Struktur“, so die Historiker­in. Auch bei den christlich­en Sakramente­n geschehe Ähnliches. „Durch das Ausspreche­n wird etwas hergestell­t.“

Am Beispiel eines Festmahls zeigte die Historiker­in auch den „performati­ven Charakter“von Ritualen auf. Wer wird eingeladen, wer darf neben wem sitzen, wer gehört zum engsten Kreis? Hier können Rituale integriere­n, aber auch ausschließ­en. Im Märchen etwa gebe es die Fee, die nicht eingeladen wurde, und die deshalb Unheil bringt.

Im Blick auf die Gegenwart sprach Stollberg-rilinger von den „Protestrit­ualen“, etwa bei Bürgerbewe­gungen. Wo Menschen sich gegenseiti­g wahrnehmen, mit gemeinsame­n Zeichen, die sie tragen, wirke dies ansteckend und verbindend. „Man sieht, wer das auch noch macht.“So können Rituale auch Wandel und Veränderun­g bringen. Einen lauen Sommeraben­d draußen verbringen – auch das ist ein Ritual. Was sich, wie an diesem Abend im Annahof, nicht unbedingt als günstig erwies. Ein kalter Wind lud die Zuhörer nicht unbedingt zum längeren Verweilen ein.

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