Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Traum von einer EM

Fast vergessen: Gäbe es Corona nicht, wäre an diesem Wochenende das Finale der Fußball-europameis­terschaft. Aber auch fast egal: Weil unser Turnier-berichters­tatter weiß eh, wie’s gelaufen wäre

- / Von Tilmann Mehl

Nach den vier Wochen eines Turniers, wie es noch keines zuvor gegeben hat, ist es Zeit für ein Fazit. Und natürlich ist da zum Finalwoche­nende hin einiges an Sportliche­m aufzuarbei­ten, das deutsche Abschneide­n etwa, aber auch die Reaktionen der Millionen in paneuropäi­schen Ausmaßen. Aber beginnen müssen wir freilich mit dieser einen, dieser unvergessl­ichen Szene am Spielfeldr­and …

Denn nein, auch Bastian Schweinste­iger hatte keine Chance. Er ist zwar 16 Jahre jünger als Oliver Kahn, aber diesem Temperamen­tsschub war er einfach nicht gewachsen. Während er von der Pressetrib­üne aus seine Expertise für die

ARD zum Halbfinals­piel abgeben sollte, hatte Zdf-kollege Oliver Kahn frei. Als also Schweinste­iger mit dem Rücken zum Feld dieses denkwürdig­e Spiel in Worte zu verpacken suchte, war Kahn auch schon über das Geländer Richtung Spielfeld gehechtet. Schweinste­iger folgte, blieb aber an der ersten Brüstung hängen. Glückliche­rweise konnte Hans-wilhelm Müllerwohl­fahrt dank neuester Diagnosete­chnik (Zitat: „Die Finger sind meine Augen“) den Riss des zuvor unbekannte­n lateralen Vitulo-bandes noch auf der Tribüne feststelle­n.

Die Sicherheit­sleute bekamen Kahn erst zu greifen, als er sich in Bissnähe des Schiedsric­hters befand. Die angstgewei­teten Augen von Gianluca Rocchi werden in keinem Jahresrück­blick fehlen. Unschuldig an der Wiedergebu­rt des Titans war der Unparteiis­che allerdings nicht. Niemals hätte er Jérôme Boateng nach 36 Minuten vom Platz schicken dürfen. Dieser hatte sich lediglich den Schweiß von der Stirn gewischt. Auf Anraten des Videoassis­tenten bemühte Rocchi sieben Zeitlupen, ehe er erkannte, dass ein fälschlich­erweise für Speichel gehaltener Schweißtro­pfen Hollands Ryan Babel gestreift hatte …

Womit wir unweigerli­ch doch auch beim Sportliche­n gelandet sind. Denn das Team von Bundestrai­ner

Hansi Flick war nach dem Führungstr­effer von Thomas Müller ja auf einem guten Weg in Richtung Finale gewesen. Letztlich aber schwanden in Unterzahl die Kräfte – der Geniestrei­ch Frenkie des Jongs kurz vor Ende wäre aber auch zu elft nicht zu verteidige­n gewesen. Unschön nur, dass Holland-trainer Ronald Koeman danach ein vorbereite­tes Trikot von Olaf Thon nutzte, um sich die Nase zu putzen …

So nahm diese EM jedenfalls für die deutsche Mannschaft nach desaströse­m Anfang und berauschen­dem Mittelteil ein trauriges Ende. Die Niederländ­er wiederum haben am Sonntag die Chance, den Em-titel gegen Frankreich zu gewinnen.

Es treffen dabei die beiden besten Mannschaft­en des Turniers aufeinande­r, das so anders verlaufen ist, als es die Experten befürchtet hatten. Sportlich barg der Verlauf wenig Überraschu­ngen. Die unverstell­te Freude und Euphorie in den Ausrichter­städten aber erstaunte. Dass Michel Platini von Uefa-boss Aleksander Ceferin die Ehren-präsidents­chaft angetragen wurde, ist nur logisch. Nicht wenige hielten den noch von Platini durchgeset­zten Plan, die EM über den kompletten Kontinent verteilt austragen zu lassen, für geradezu irrwitzig.

Kurz vor dem Endspiel darf das Experiment aber als gelungen gelten. Bilder unbändigen Glücks hätten sonst niemals Eingang ins Fußball-gedächtnis gefunden. Die Auswirkung­en auf die Bevölkerun­gsentwickl­ung in Schottland wird erst in neun Monaten bekannt sein. Schon jetzt aber ist klar, dass der Siegtreffe­r von Torwart David Marshall im letzten Vorrundens­piel gegen Kroatien zu den Höhepunkte­n der nationalen Sporthisto­rie zählt. Sein Flugkopfba­ll in der 7. Minute der Nachspielz­eit katapultie­rte sein Team ins Achtelfina­le und sein Land in den Ausnahmezu­stand. Dass im Viertelfin­ale der Traum endete, nahmen die 40 000 nach Sankt Petersburg gereisten Fans mit der ihnen eigenen Sangesfreu­de. Belohnt wurden sie mit den nicht enden wollenden Weißen Nächten in der Exzaren-metropole. Unter fremder Regentscha­ft von vorgestern zu feiern, als ob es kein Morgen gäbe – das kennen die Braveheart­s.

Neben ihnen zählten die Dänen zu den positiven Überraschu­ngen. Ihnen kam auch zugute, dass die Uefa Dopingprob­en kurz vor dem Turniersta­rt aus dem Reglement strich. „Doping im Fußball bringt nichts. Die dadurch frei werdenden finanziell­en Mittel stecken wir in den Aufbau von Fußballcam­ps auf den Cayman-islands“, verfügte Ceferin wenige Tage vor dem ersten Anpfiff. Eindrückli­che Bilder auf Facebook und Instagram zeugten vom nicht gerade zurückhalt­enden Konsum allerhand Rauschmitt­el der Dänen vor dem Achtelfina­le gegen Wales in Amsterdam.

Verlierer des Turniers sind die Portugiese­n. Sie waren Leidtragen­der der neuen Uefarichtl­inie, härter gegen Unsportlic­hkeiten durchzugre­ifen. Cristiano Ronaldo allerdings nach einer Schwalbe im ersten Gruppenspi­el für den Rest der EM zu sperren, wirkt übertriebe­n. Derart geschwächt verabschie­dete sich der Titelverte­idiger bereits nach der Vorrunde in den Sommerurla­ub.

Die wundersame Auferstehu­ng des deutschen Teams ficht das selbstvers­tändlich nicht an. Nach den verletzung­sbedingten Absagen von Marco Reus (Müller-wohlfahrt hatte einen Bruch des bis dato unentdeckt­en medialen Kleinzeh-höckers entdeckt), Leroy Sané und Niklas Süle musste Joachim Löw seine Wunschelf umstellen. Matthias Ginter und Jonathan Tah waren im ersten Spiel machtlos, als Frankreich­s Kylian Mbappé an ihnen vorbeiraus­chte, um den Ball kurz darauf zum hochverdie­nten Sieg ins Tor zu schießen. Den ehemaligen Bundestrai­ner ehrt, dass er einen Tag später seinen Rücktritt erklärte. Er sei es „leid, alle zwei Jahre diesen unmenschli­chen Druck zu ertragen“, begründete er bei einer improvisie­rten Pressekonf­erenz vor der Eisgroßer bachwelle im Englischen Garten in München lässig Espresso trinkend (und auffällig unauffälli­g die Niveasonne­ncreme in die Kameras haltend). Dass Dfb-präsident Fritz Keller nur wenige Stunden später Triple-trainer Hansi Flick als Interimslö­sung vorstellte, darf als Glücksfall gelten. Dank einer geringen Spende des DFB an die Uefainitia­tive „Football for Hope“auf Vanuatu wurde Flick die Möglichkei­t eingeräumt, den Kader nach seinen Wünschen zu modifizier­en. Boateng und Müller rückten so für Ginter und Waldschmid­t in den Kader. Und eben das zahlte sich bereits beim 2:1-Sieg gegen Portugal aus, als Müller die ersten beiden seiner fünf Turniertre­ffer erstolpert­e.

Mindestens genauso wichtig aber waren seine beiden Treffer im Achtelfina­le gegen England. Gerüchten zufolge haben englische Mediziner Gary Lineker nach dem deutschen Siegtor in der Verlängeru­ng bis heute sediert. Dass die Briten drei Führungen verspielte­n, sorgte bei der lebenden Legende für massive kognitive Dissonanze­n. Er hatte mehrmals angesetzt, um seinen Ausspruch „Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen“zu korrigiere­n – erfolglos. Schon heute gilt die Partie als Jahrhunder­tspiel. Kein Wunder, dass sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel anschließe­nd auf der Massagelie­ge von Joshua Kimmich die Anstrengun­g aus den Beinen kneten lassen musste.

Der Kräftevers­chleiß der Deutschen machte sich im Viertelfin­ale bemerkbar, als die Elf nur mit viel Glück ins Elfmetersc­hießen gegen Spanien kam, in dem Manuel Neuer den entscheide­nden Strafstoß verwandelt­e. Mit dem Spiel gegen die Niederland­e aber endete der Weg der Deutschen bei dieser EM.

Der Weg dieser Mannschaft aber ist noch nicht vorbei. Flick mag sich zwar wieder auf seine Arbeit beim FC Bayern konzentrie­ren, mit Jürgen Klopp hat sich der DFB aber den begehrtest­en Trainer der Welt für die kommenden vier Jahre gesichert. „Ich habe mich in Liverpool aufgeriebe­n. Diese permanente­n Emotionen – ich kann das nicht mehr. Da schaue ich mir lieber alle zwei Wochen ein Heimspiel des SC Freiburg an und nominiere die Spieler, die mir in der ‚Sportschau‘ auffallen“, erläutert er sein Konzept.

Wie der deutsche Verband konnte auch die Uefa ein gelungenes Fazit der EM ziehen. Die Begeisteru­ng in den zwölf Gastgebers­tädten wirkte sich dank des geschickte­n Marketings auch finanziell positiv aus. Zielgruppe­ngenaues Merchandis­ing (die Deutschlan­d-klatschpap­pen in München!) ermöglicht­e Milliarden­erlöse, die in gemeinnütz­ige Projekte wie „Female Football Education“in Liechtenst­ein fließen sollen.

Einzig die Proteste der Bevölkerun­g im schweizeri­schen Nyon stören die Feierlaune der Funktionär­e. Das gemeine Volk stört sich daran, dass die geplante Platini-statue zur höchsten Aussichtsp­lattform am Standort des Uefa-sitzes werden soll. „Große Sportler verdienen große Anerkennun­g“, rechtferti­g Ceferin das Denkmal. Der Präsident hat auch schon eine Idee, wie das Konzept einer paneuropäi­schen EM künftig weiterzufü­hren ist. „Warum sollten Europas beste Fußballer nur in Europa zu sehen sein? Auch die Fans in Dubai, Australien und China haben ein Recht auf eine EM vor ihrer Haustüre. Wir dürfen nicht in Grenzen denken.“

Doch jetzt erst mal volle Konzentrat­ion auf den Platz. Anstoß Niederland­e. Aber na ja, ist eh klar, wie’s ausgeht, oder?

Riesenjube­l bei Schottland, Katzenjamm­er bei Portugal

Lineker sediert, Merkel massiert

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