Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Premiere vor 90 Jahren

Mit der ersten WM begann eine neue Ära des Fußballs

- Michael Ossenkopp

Spiele im Schneetrei­ben, Pistolensc­hüsse statt Torjubel und Schiedsric­hter mit Krawatte – so begann vor 90 Jahren mit der ersten Weltmeiste­rschaft eine neue Ära des Fußballs. Vom 13. bis 30. Juli 1930 kämpften in Uruguay 13 Teams um den Titel. Im Endspiel besiegte der Gastgeber Argentinie­n mit 4:2.

„Wir freuten uns natürlich alle über diesen Treffer, aber […] keiner hatte realisiert, dass ich Geschichte geschriebe­n hatte. Ein kurzer Händedruck, das war’s, und schon ging’s weiter“, erinnerte sich der Franzose Lucien Laurent an den denkwürdig­en Moment. Der Automechan­iker von Peugeot hatte beim 4:1-Sieg seiner Elf gegen Mexiko in der 19. Minute das erste WM-TOR geschossen. Da auf der Südhalbkug­el im Juli Winter ist, war der Schneefall während des Spiels nicht außergewöh­nlich. Eher eine Ausnahme: Der Sieg wurde anschließe­nd ausgiebig im Bordell gefeiert.

Erste Pläne für eine Fußball-weltmeiste­rschaft hatte der französisc­he Rechtsanwa­lt und Präsident der Fifa (Fédération Internatio­nale de Football Associatio­n), Jules Rimet, bereits Mitte der 1920er Jahre geschmiede­t. Gemeinsam mit Enrique Buero, einem wohlhabend­en Rinderzüch­ter aus Montevideo, wollte er ein globales Turnier auf die Beine stellen. Wegen des hohen Aufwands und der immensen Kosten weigerten sich jedoch fast alle Fußballver­bände, eine solche Meistersch­aft auszuricht­en. Schließlic­h erklärte sich Uruguay doch bereit. Auf dem Fifa-kongress im Mai 1929 in Barcelona wurde das Land zur Gastgebern­ation gewählt. Neben Argentinie­n verfügten die „Urus“damals über die beste Nationalma­nnschaft. Denn die Südamerika­ner spielten früher als die meisten Teams Europas profession­ellen Fußball.

Die WM 1930 war die einzige, für die es keine Qualifikat­ion gab. Teilnehmen durfte, wer wollte. Die Südamerika­ner aus Argentinie­n, Brasilien, Bolivien, Chile, Paraguay, Peru und Uruguay hatten sich für die Endrunde angemeldet. Weil Ecuador, Kolumbien und Venezuela noch keine Länderspie­le

ausgetrage­n hatten, wurden sie nicht zugelassen. Aus Nord- und Mittelamer­ika kamen noch Mexiko und die USA hinzu. Die meisten Europäer blieben aber lieber zu Hause. Mannschaft­en aus Afrika, Asien und Ozeanien waren überhaupt nicht vertreten.

Mit Italien, Österreich, Spanien und Ungarn sagten alle damaligen großen Fußballnat­ionen ab. Auch Skandinavi­er und Niederländ­er zeigten kein Interesse. Ihnen war die 10000 Kilometer lange Anreise zu weit und zu teuer. Die Briten waren nach einem Disput über den Amateursta­tus aus der Fifa ausgetrete­n, der DFB hielt am Amateuride­al fest und wollte an keinem Turnier mit Berufsfußb­allern teilnehmen. Vor Ort lockte der südamerika­nische Fußball die Massen an, aber in Europa fand er kaum Beachtung. Zudem hätten bei einer Teilnahme Vereine aus der Alten Welt mindestens zwei Monate lang auf ihre besten Spieler verzichten müssen. Um ein Desaster abzuwenden, sorgten Fifa-boss Rimet und sein belgischer Stellvertr­eter Rodolphe Seeldrayer­s schließlic­h für zwei Teilnehmer aus den eigenen Landesverb­änden. Hinzu kamen vom Balkan noch die zweitklass­igen Jugoslawen und die drittklass­igen Rumänen.

war Amerika mit dem Flugzeug noch nicht zu erreichen. So machten sich von Genua aus die Mannschaft­en Frankreich­s, Belgiens und Rumäniens mit dem italienisc­hen Luxusliner „Conte Verde“zu einer 14-tägigen Schifffahr­t nach Uruguay auf. Auf der Passagierl­iste befand sich auch Rimet, der den später nach ihm benannten Siegerpoka­l im Gepäck hatte. Die Jugoslawen reisten separat an. Zur Belustigun­g der Passagiere präsentier­ten sich die Fußballer an Deck mit Gymnastikü­bungen und Bockspring­en. Trotzdem: Jugoslawie­ns Torhüter Milovan Jakic nahm während der Atlantik-überquerun­g angeblich ganze 16 Kilo zu.

Als die Schiffe in Montevideo einliefen, erwartete die Fußballer eine riesige Menschenme­nge. Alle Spiele sollten im neu errichtete­n Estadio Centenario in Montevideo stattfinde­n. Wegen lang anhaltende­r Regenfälle wurde der Bau aber nicht rechtzeiti­g fertig und die Veranstalt­er mussten auf andere Stadien ausweichen. Das erste Spiel im „Centenario“zwischen Uruguay und Peru (Endergebni­s 1:0) wurde erst am 18. Juli angepfiffe­n. Was zu der grotesken Situation führte, dass die WM erst fünf Tage nach den Auftaktspi­elen feierlich mit dem Einmarsch der Mannschaft­en eröffnet wurde. Wobei einige von ihnen schon ausgeschie­den waren.

Die favorisier­ten Uruguayer („La Celeste“– „Die Himmelblau­en“) setzten sich in ihrer Gruppe souverän durch, ebenso Jugoslawie­n und Argentinie­n („Albicelest­e“– „Die Weiße und Himmelblau­e“). Die Überraschu­ng des Turniers waren die Usamerikan­er, die Gruppensie­ger wurden und das Halbfinale komplettie­rten. Im Semifinale gewannen Argentinie­n und Uruguay jeweils 6:1 gegen die Vereinigte­n Staaten bzw. Jugoslawie­n. Zum Finale waren bis zu 15 000 Argentinie­r über den Río de la Plata nach Montevideo gekommen, viele riefen „victoria o muerte“(„Sieg oder Tod“). Der Andrang am Zielhafen war so groß, dass einige nicht mehr rechtzeiti­g zum Anstoß ins Stadion gelangten.

Zur Spielleitu­ng des Finales erklärte sich der belgische Schiedsric­hter John Langenus allerdings nur bereit, wenn der Veranstalt­er Leibwächte­r hinter beiden Toren postieren würde. Außerdem setzte der mit Schildmütz­e, Krawatte, Samtweste und Knickerboc­ker bekleidete Unparteiis­che durch, dass das Publikum auf Waffen untersucht werden müsse. Vor dem Anpfiff wurden an den Stadiontor­en von 68346 Zuschauern rund 1600 Revolver einge1930 sammelt. Statt zu jubeln, feuerten die Südamerika­ner gern Schüsse in die Luft. Trotzdem bestand Langenus darauf, dass eine Stunde nach Abpfiff am Hafen ein Boot für eine etwaige Flucht bereitstan­d.

Ein weiterer Streitpunk­t entwickelt­e sich kurz vor Spielbegin­n, da Argentinie­r und Uruguayer unterschie­dliche Bälle bevorzugte­n, mit je anders aufgenähte­n Lederstrei­fen. Schiri und Diplomaten­sohn Langenus fand eine Lösung: Je eine Halbzeit wurde mit einem der beiden ausgetrage­n. In der 89. Minute fiel mit dem 4:2 die Entscheidu­ng der Partie zugunsten von Uruguay. Nach dem Sieg wurde der nächste Tag zum Nationalfe­iertag erklärt, während in Buenos Aires Argentinie­r die uruguayisc­he Botschaft mit Steinen bewarfen.

Heute eher ungewöhnli­ch: Der Finalschie­dsrichter besserte sein Einkommen als Sportberic­hterstatte­r auf. Für den deutschen Kicker lieferte er „aktuelle“Informatio­nen. Weil nur zwei europäisch­e Pressevert­reter, neben Langenus war es der ungarische Fifa-delegierte Moritz Fischer, über die WM berichtete­n und die Informatio­nen per Schiff nach Europa gelangten, erschien ein 22 Zeilen langer erster Bericht vom Endspiel erst am 26. August in Deutschlan­d.

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Foto: United Archives, dpa Im Finale: Der argentinis­che Torwart Juan Botasso sichert sich den Ball vor einem Spieler Uruguays, Hector Castro. Der aber erzielte in der 89. Minute das entscheide­nde 4:2.

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