Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Anti-boris

Keir Starmer inszeniert sich als Gegenentwu­rf zu Premier Johnson. Er ist kein Sprücheklo­pfer, sondern agiert betont höflich. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil?

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Seine erste Fragestund­e im britischen Parlament fiel zusammen mit dem traurigen Höhepunkt der Corona-krise. Es war Mai und gerade wurde berichtet, Großbritan­nien sei das zahlenmäßi­g am schlimmste­n von der Pandemie betroffene Land. Nun stand Sir Keir Starmer erstmals als neuer Opposition­schef Premiermin­ister Boris Johnson gegenüber. Und fragte stellvertr­etend für das Volk: „Wie um alles in der Welt kam es dazu?“Es war ein Satz, der bis heute nachhallt. Der im April gewählte Labour-vorsitzend­e wurde von den Medien als Gewinner des Duells gekürt. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Der Jurist seziert als eine Art Chef-ankläger des Premiers jeden Mittwoch die Schwachste­llen der Regierung. An diesem Montag ist der 57-Jährige 100 Tage im Amt – und er wird immer beliebter.

Mittlerwei­le würde die Bevölkerun­g lieber ihn als Regierungs­chef sehen als Johnson, wie kürzlich eine Umfrage ergab. Hier ist er endlich, ein glaubhafte­r Herausford­erer, auf den viele gemäßigte Labour-anhänger seit Jahren gewartet hatten. Oder? Unter den moderaten Sozialdemo­kraten ist die Hoffnung groß, dass sich Labour nach Jahren der Selbstzerf­leischung wieder als ernsthafte Alternativ­e zu den Tories präsentier­en kann. Starmer will die Partei wieder mehr in die politische Mitte rücken.

Er stammt aus der Arbeitersc­hicht – der Vater war Werkzeugma­cher, die Mutter Krankensch­wester – und wurde benannt nach dem Gründervat­er von Labour, Keir Hardie. Aufgewachs­en in einem Dorf in der südostengl­ischen Grafschaft Surrey, prägte seine Kindheit die schwere Krankheit seiner Mutter. Beschwert aber habe sie sich nie, so Starmer, der als einziger seiner Geschwiste­r das Gymnasium besuchte. Nach seinem Abschluss in Oxford arbeitete der ehrgeizige Brite für eine damals revolution­äre Kanzlei von Menschenre­chtsanwält­en. 2008 wurde er zum Leiter der Generalsta­atsanwalts­chaft in England und Wales ernannt: der höchste Posten seiner Zunft. Er half unter anderem, Verurteilt­e in ehemaligen britischen Kolonien vor der Todesstraf­e zu bewahren, wofür ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter schlug.

Seit 2015 sitzt Starmer im Unterhaus. Der verheirate­te Vater von zwei Kindern habe nie Feinde gehabt, schrieb der Guardian nach seiner Wahl zum Vorsitzend­en und fragte: „Kann er sich das bewahren?“Bislang präsentier­t er sich als kompletter Gegenentwu­rf zum jovialen und Sprüche klopfenden Premier. So agiert der Opposition­sführer ruhig, höflich und zugleich erbarmungs­los. Genau das könnte aber auch sein Problem werden. Vielen Briten erscheint er als zu langweilig, zu steif, zu farblos. Ihm fehle der Glamour und das Charisma, befürchten einige Labour-fans, zudem eine klare Richtung, in die er steuert. Aber er hat ja noch Zeit. Die nächste Parlaments­wahl findet erst im Jahr 2024 statt. Katrin Pribyl

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Foto: dpa

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