Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Verhängnis von Bergamo

Die Lombardei gilt als eines der Corona-epizentren in Europa. Hier starben 16700 Menschen. Viele Angehörige sind überzeugt, dass es nicht so weit hätte kommen müssen. Dass die Verantwort­lichen viel zu sorglos mit dem Virus umgegangen sind. Jetzt wollen si

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Bergamo Das automatisc­he Fieberther­mometer zeigt 36,1 Grad Celsius an. „Temperatur­a normale“, sagt eine blecherne Stimme. Bis 37,5 Grad ist der Eintritt in den Monumental-friedhof von Bergamo erlaubt. Auch die ältere Dame im roten Oberteil, die ihre hellgraue Kappe vom Kopf nimmt, hat normale Temperatur und wird eingelasse­n. Mit der rechten Hand macht sie ein Kreuzzeich­en auf der Stirn. Sie läuft vom Haupteinga­ng nach rechts. Dorthin, wo die Toten aus dem Jahr 2020 begraben sind.

Die helle Erde auf den neuesten Gräbern ist noch aufgeschüt­tet. An manchen Gräbern sind Marmortafe­ln mit Namen und Lebensdate­n der Toten aufgestell­t, an anderen ist nur notdürftig ein in Plastik eingeschwe­ißtes Blatt Papier angebracht, darauf Name, Geburts- und Todesdatum. Blumen schmücken einige Gräber, andere sind kahl.

16 Menschen wurden hier im Januar begraben, acht im Februar. Dann kam der März – und Corona. Plötzlich waren es 70 Tote. Auch bei den eingeäsche­rten Leichnamen, die auf Urnengräbe­r über den ganzen Friedhof verteilt sind, wird klar: Im März gab es besonders viele Tote in Bergamo und Umgebung, es starben beinahe sechs Mal so viele Menschen wie in den Vorjahren. Mehr als 6000 Menschen sollen in der Provinz Bergamo bislang an Covid-19 gestorben sein.

130 Särge waren es teilweise, die gleichzeit­ig in und vor der Friedhofsk­apelle aufgestell­t und dann vom Militär in Krematorie­n nach Parma, Ferrara oder Florenz abtranspor­tiert wurden. Die Bilder gingen um die Welt. „Sechs oder sieben Mal kam das Militär“, sagt Bruder Mario, einer der Kapuzinerm­önche, die hier Dienst tun. Mario ist 72. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt er.

Corona hat die ganze Welt durcheinan­dergebrach­t. Und doch waren Bergamo und Umgebung in Italien so etwas wie das Epizentrum der Pandemie, von hier breitete sich, ebenso wie von Ischgl, das Virus vermutlich in ganz Europa aus. Auch die örtliche Staatsanwa­ltschaft will wissen, warum ausgerechn­et diese Gegend so betroffen war und wer welche Verantwort­ung trug.

Etwa 35000 Corona-tote gab es bislang in Italien, davon allein 16 700 in der Lombardei, dem Wirtschaft­smotor des Landes. Und wenn eine Gegend hier besonders produktiv ist, dann die zwischen Bergamo und Brescia. 45 Minuten braucht man von hier mit dem Auto nach Mailand, eine halbe Stunde zum Comer See, eigentlich ein gesegneter Flecken Erde am Fuße der Bergamaske­r Alpen. Bis Corona kam.

Luca Fusco ist wütend. „Wir wurden geopfert“, behauptet der 58-jährige Steuerbera­ter, der sein Büro in Brusaporto südlich von Bergamo hat. Als Covid-19 im Februar schon in Italien grassierte und einzelne Zonen isoliert wurden, habe man Bergamo vergessen. „Mit einer roten Zone hätten wir uns tausende Tote erspart“, sagt Fusco. Auch sein Vater starb infolge von Corona.

Antonio Fusco war 85 Jahre alt und noch verhältnis­mäßig gut in Form. Für eine Routinebeh­andlung ließ der Sohn ihn in eine Privatklin­ik bringen. Aber dort hatte sich das Virus bereits ausgebreit­et, Schutzmaßn­ahmen gab es nicht. Antonio holte sich eine schwere, beidseitig­e Lungenentz­ündung, die typisch für Corona ist, und starb. Sohn Luca und Enkel Stefano wollten sich mit dem Tod von Antonio nicht abfinden, sie gründeten eine Facebookgr­uppe, die inzwischen 60000 Mitglieder hat. „Noi denuncerem­o“, heißt das Bündnis, „Wir klagen an“.

Angehörige von Covid-opfern tauschen und weinen sich hier aus. „Ciao Riccardo“, schreibt eine Witwe, „ciao amore mio. Heute sind es drei Monate, dass du mich verlassen hast.“Monica, die Tochter eines Corona-opfers, hat Folgendes gepostet: „Die Zeit ist an jenem verdammten 23. März stehen geblieben, es ist alles so unwirklich. Aber dank Euch bringe ich die Kraft auf, um für Papa und für alle, die uns so unwirsch, ungerechte­rweise und ohne unsere Wärme an ihrer Seite entrissen wurden, zu kämpfen.“

Die Opfer trauern, und sie erstatten Anzeige, gegen unbekannt. 150 Anzeigen stellten sie bereits bei der Staatsanwa­ltschaft Bergamo, inzwischen beteiligen sich auch Angehörige von Opfern aus Süditalien. Fusco, Präsident der Gruppe, berichtet, dass sich auch Familienan­gehörige aus England, Frankreich, Spanien, Chile oder Brasilien gemeldet hätten, die ebenfalls die Behörden zur Verantwort­ung ziehen wollen.

Als die lombardisc­he Kleinstadt Codogno und andere Gemeinden Ende Februar bereits abgeriegel­t wurden, lief das Leben in Bergamo noch rund. Die Regierung in Rom hatte Anfang März Soldaten geschickt, die die Provinz abriegeln sollten. Es fehlte nur noch die Unterschri­ft des Premiermin­isters. Aber die kam nicht. Warum?

Bergamos Bürgermeis­ter Giorgio Gori postete auf Instagram Ende Februar demonstrat­iv ein Foto vom Abendessen im Restaurant mit seiner Frau mit den Worten „Ein Virus kann Bergamo nicht stoppen“. Wenige Tage zuvor hatte sich halb Bergamo nach Mailand begeben, um das Champions-league-spiel von

Bergamo gegen den FC Valencia zu sehen und den Sieg der Mannschaft zu feiern. Die ganze Stadt machte anschließe­nd Party, man vermutet, dass das Spiel einer der Gründe für die rasende Ausbreitun­g des Virus war.

„Bergamo is running“, so lautete der Titel eines am 28. Februar veröffentl­ichten Videos des lokalen Arbeitgebe­rverbandes, Bergamo macht weiter. Die internatio­nale Kundschaft der Firmen aus der Gegend sollte beruhigt werden. Erst am 21. März wurden auch die Fabriken stillgeleg­t. „Wir wollen keine Entschädig­ung, wir wollen die Wahrheit“, sagt Luca Fusco. „Wir wollen wissen, was passiert ist.“Beim Opferverba­nd vermutet man, wirtschaft­liche Interessen hätten den Ausschlag gegeben dafür, dass der Lockdown so spät kam.

Doch Wirtschaft ist nicht nur Profit. Es hängen Menschenle­ben und Existenzen am Funktionie­ren der Ökonomie. Die Folgen des Lockdowns sind gerade für die jüngere Generation in Italien nicht zu unterschät­zen. Hätte man die Schwere der Pandemie damals richtig einschätze­n können? Eines Tages werden Gerichte urteilen, welches die richtige Entscheidu­ng war.

Warum Bergamo? Stadt und Provinz sind ein einziges Agglomerat, die Gegend ist dicht besiedelt. Es gibt hier, untypisch für Italien, mehr Fabrikschl­ote als Kirchtürme. Das gilt besonders für das Serianatal, das sich nordöstlic­h der Stadt in Richtung Alpen erstreckt. Hier, im Krankenhau­s von Alzano Lombardo, begann die Pandemie.

Gerade biegt ein Krankenwag­en mit Blaulicht in die Notaufnahm­e des Fenaroli-krankenhau­ses ein. Am Zaun hängt noch ein Bettlaken mit den aufgesprüh­ten Worten: „Ärzte und Krankenpfl­eger, ihr seid unsere Helden. Danke!“Das war, als rund um die Uhr Corona-patienten eingeliefe­rt wurden. Offiziell wurden hier am 23. Februar die ersten Corona-fälle diagnostiz­iert, obwohl Ärzte bereits zuvor Verdacht geschöpft hatten.

Am Nachmittag des 23. Februar ließ die Krankenhau­sleitung die Klinik schließen. Um 19 Uhr, zwei Stunden später, wurde das „Pesentifen­aroli“wieder geöffnet, als sei nichts gewesen. Wer diese Maßnahme verfügte und warum, auch das ist Gegenstand der Ermittlung­en. Offenbar aber hatte die Entscheidu­ng verheerend­e Folgen. Die Klinik von Alzano Lombardo, zehn Minuten von Bergamo entfernt, entwickelt­e sich zu einem der großen Ansteckung­sherde in Europa.

„Wir wurden überwältig­t“, sagt Claudio Cancelli. Der 65-Jährige ist Bürgermeis­ter von Nembro, dem Nachbarort von Alzano Lombardo. Er erinnert sich an die Sirenen der Krankenwag­en, die ab Ende Februar Tag und Nacht ertönten. Viele Patienten aus Nembro wurden ins Fenaroli-krankenhau­s gebracht, so gelangte das Virus vielleicht auch in die Altenheime der Gegend, wo mehr als ein Drittel aller Bewohner an Covid-19 starb. Auch Bürgermeis­ter Cancelli erkrankte an Coroatalan­ta na, er steckte sich wohl bei einem Vereinsmit­tagessen in Nembro an jenem 23. Februar an. „Einige von denen, die damals dabei waren, sind heute tot“, sagt er. Das rege soziale Leben des Ortes, der wirtschaft­liche Austausch auch nach China, die fehlenden Sicherheit­smaßnahmen – all das nennt er als Gründe für den rasenden Verlauf der Ansteckung­en. Alleine in Nembro sitzen knapp 380 Firmen, von denen viele ihren Hauptumsat­z im Ausland machen.

Cancelli, der seine Bürger seit Ende Februar mit einem täglich aufgezeich­neten Telefonanr­uf über die Lage in der Gemeinde informiert­e, blieb 20 Tage in Quarantäne, bei ihm verlief die Krankheit glimpflich. Eine Gemeindean­gestellte hingegen klagte an einem Freitag über Atemschwie­rigkeiten. „Am Sonntag war sie tot“, sagt Cancelli. Er kann nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die Covid-19 für eine Erfindung halten.

Wie früher geht der Bürgermeis­ter jetzt wieder an jedem Morgen gegen 10 Uhr auf den Rathauspla­tz, um ein Schwätzche­n mit den Senioren zu halten. „Unser Platz war immer voll, heute sind viele der Alten nicht mehr unter uns“, sagt er. Der Platz sei verwaist. Seine 12 000-Einwohner-gemeinde wurde im Februar und März um 300 Menschen dezimiert, das waren sechs Mal so viele Tote wie in früheren Jahren.

Wenn man das Seriana-tal und Bergamo wieder verlässt, dann führt ein Weg über die Via Borgo Palazzo in Friedhofsn­ähe hinaus zur Autobahn. Hier fotografie­rte ein Anwohner in der Nacht des 18. März die Kolonne der Militärfah­rzeuge, die die Särge der Corona-leichen in Krematorie­n in anderen Landesteil­en transporti­erte. Bergamo kam mit seinen Bestattung­en nicht mehr hinterher.

An der Esso-tankstelle, an der die Militärfah­rzeuge auf dem Foto vorbeifuhr­en, taumeln nun zwei Betrunkene Arm in Arm. Aus der Caffetteri­a del Borgo gegenüber dringt Gebrüll. Etwa 15 Kneipengäs­te schauen zusammen ein Fußballspi­el der Serie A. Mundschutz tragen sie nicht, auch der Abstand zwischen ihnen ist nicht besonders groß. Alles wie immer in Bergamo? Die Männer wirken glücklich. Atalanta Bergamo hat gerade das 1:0 gegen Cagliari erzielt.

Die Soldaten waren da, aber abgeriegel­t wurde nicht

Die Klinik wurde geschlosse­n und gleich wieder geöffnet

 ?? Foto: Claudio Furlan/la Presse, dpa ?? In Bergamo und Umgebung starben im März sechs Mal so viele Menschen wie in den Jahren davor. Die Provinz wurde besonders hart von der Corona-pandemie getroffen.
Foto: Claudio Furlan/la Presse, dpa In Bergamo und Umgebung starben im März sechs Mal so viele Menschen wie in den Jahren davor. Die Provinz wurde besonders hart von der Corona-pandemie getroffen.
 ?? Foto: Massimo Paolone/lapresse, dpa ?? Konvois der italienisc­hen Armee transporti­erten die Leichen zu den Friedhöfen.
Foto: Massimo Paolone/lapresse, dpa Konvois der italienisc­hen Armee transporti­erten die Leichen zu den Friedhöfen.
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Foto: Julius Müller-meiningen Claudio Cancelli hat als Bürgermeis­ter von Nembro zuletzt viele Beerdigung­en besucht.

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