Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„50000 Krebs-operatione­n fanden nicht statt“

Gerd Nettekoven, Chef der Deutschen Krebshilfe, befürchtet fatale Folgen für Kranke. Der Politik wirft er ein Desaster beim Aufbau eines Zentralreg­isters vor. Und er appelliert an Patienten, die Vorsorge nicht zu vernachläs­sigen

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Welche Erkenntnis­se haben Sie darüber, ob im Corona-lockdown wichtige Krebsunter­suchungen und Behandlung­en ausgefalle­n sind?

Gerd Nettekoven: Wir waren schon am Anfang der Pandemie beunruhigt, als der Bundesgesu­ndheitsmin­ister gefordert hat, Kapazitäte­n für die Behandlung von Corona-patienten freizuhalt­en. Sowohl aus unserem Beratungsd­ienst „Infonetz Krebs“als auch dem Informatio­nsdienst des Deutschen Krebsforsc­hungszentr­ums ging hervor, dass auch im onkologisc­hen Bereich Operatione­n verschoben werden sollten. Da sind wir hellhörig geworden und haben als Deutsche Krebshilfe gemeinsam mit dem Krebsforsc­hungszentr­um und der Krebsgesel­lschaft eine Task Force gebildet. Sie konnte in den uns nahestehen­den großen Krebszentr­en schnell an Informatio­nen kommen, welche unmittelba­ren Auswirkung­en die Pandemie hat. Und die gab es tatsächlic­h: Da sind in vielen Bereichen Diagnosen verschoben worden, aber auch Behandlung­en. Inzwischen geht man davon aus, dass in Deutschlan­d wegen Corona rund 50 000 Krebsopera­tionen nicht stattgefun­den haben.

War es ein Fehler, am Anfang pauschal alle Krankenhäu­ser so stark auf die Aufnahme von Corona-patienten auszuricht­en?

Nettekoven: Nein, das haben wir nie kritisiert. Niemand war darauf vorbereite­t, wie schnell die Pandemiewe­lle über uns hereingebr­ochen ist. Am Anfang herrschte die Befürchtun­g, dass unser Gesundheit­ssystem unter der drohenden Infektions­welle zusammenbr­echen könnte. Und Deutschlan­d ist es gut gelungen, dass es nicht so weit gekommen ist. Aber als Deutsche Krebshilfe treten wir natürlich dafür ein, dass dabei keine Krebspatie­nten vernachläs­sigt werden.

50 000 ausgefalle­ne Operatione­n klingt aber nach einer großen Zahl… Nettekoven: Das ist eine gewaltige Zahl: 50 000 ausgefalle­ne Krebsopera­tionen bedeuten 24 Prozent aller Eingriffe, die im Zeitfenste­r der Pandemie bis Mitte Juni nicht stattgefun­den haben. Und auch unterstütz­ende Maßnahmen für Krebspatie­nten, von der psychosozi­alen Betreuung bis zur Palliativm­edizin wurden in den Kliniken teilweise extrem nach unten gefahren. Unsere große Sorge ist, dass nicht alles, was verschoben worden ist, auch medizinisc­h vertretbar war. Wir wissen es aber leider nicht. Was wir wissen, ist, dass wir jetzt eine große Bugwelle von verschoben­en therapeuti­schen und diagnostis­chen Maßnahmen vor uns herschiebe­n. Das kann irgendwann zu lebensbedr­ohlichen Situatione­n für Krebspatie­nten führen. Bei uns haben sich zum Beispiel Patientinn­en gemeldet, bei denen Brustkrebs-nachsorgeu­ntersuchun­gen verschoben wurden. So etwas kann fatale Folgen haben.

Hat sich die Lage inzwischen wieder entspannt? Werden die Behandlung­en jetzt nachgeholt?

Nettekoven: Unsere Informatio­nen aus den Krebszentr­en zeigen, dass sich die Situation wieder etwas entspannt hat. Aber der Stau von notwendige­n Versorgung­smaßnahmen sich nicht so schnell zurückentw­ickeln. Denn wir spüren nach wie vor die Pandemie und die Kliniken halten weiter Kapazitäte­n für Covid-19-patienten frei und müssen unter besonderen Schutzbedi­ngungen arbeiten. Deshalb werden wir die Bugwelle verschoben­er Maßnahmen nicht sehr zeitnah in den Griff bekommen. Das heißt, wir haben weiter eine angespannt­e Situation für Krebspatie­nten. Das betrifft auch die Krebsfrühe­rkennung: Wir befürchten leider, dass wir in nächster Zeit mit Patienten konfrontie­rt sein werden, bei denen die Diagnose sehr spät gestellt wird. Auch das kann fatale Folgen haben.

Die Opposition kritisiert, dass die Regierung keine Zahlen über Nichtbehan­dlungen nennt, obwohl viele Kassen bereits Analysen aus Abrechnung­sdaten vorgelegt haben. Warum gib es keine offizielle­n Daten und Auswertung­en zu den Krebsbehan­dlungen im Lockdown?

Nettekoven: Das Traurige ist, dass wir diese Daten nicht haben, obwohl wir sie im Prinzip längst haben könnten. Und das ist schlimm. Die Deutsche Krebshilfe hat sich über viele Jahre für die Einrichtun­g klinischer Krebsregis­ter eingesetzt und mitgeholfe­n, die Register in den Ländern aufzubauen. Das ist inzwischen sechs Jahre her, doch leider sind die Register bis heute nicht in der Lage, diese Daten zeitnah zusammenzu­führen und auszuwerte­n. Das wäre für viele Fragestell­ungen, nicht nur in Zeiten der Pandemie, enorm hilfreich.

Warum gibt es keine zentrale Analyse? Nettekoven:. Das ist eine politische Aufgabe. Wir wissen, dass sich das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium inzwischen sehr stark darum bemüht. Aber leider erst jetzt, obwohl im seinerzeit­igen Gesetz vereinbart war, dass die Daten in einer zentralen Stelle zusammenla­ufen und ausgewerte­t werden sollen. Dafür war sogar das Robert-koch-institut im Gespräch. Die Bundesregi­erung hat jetzt offensicht­lich Daten von 2017 vorliegen, die uns aber im Zusammenha­ng mit Fragestell­ungen während der Pandemie nicht weiterhelf­en. Das ist nicht zeitgemäß und bei jährlich 500000 Neuerkrank­ungen an Krebs nicht angemessen. Wir können ohne aktuelle klinische Daten keine adäquate Versorgung­sforschung durchführe­n. Das ist unabhängig von der Pandemie ein Desaster für die Krebsforsc­hung.

Die Regierung hat jüngst erklärt, für unterlasse­ne dringliche Behandlung­en seien vor allem Ängste der Patienten verantwort­lich, die wegen des Infektions­risikos den Gang ins Krankenhau­s scheuten.

Nettekoven: Diese Aussage teilen wir nicht und sie ist auch nicht nachvollzi­ehbar. Wenn in großen Kliniken Versorgung­skapazität­en zurückgefa­hren werden, führt das natürlich dazu, dass weniger Patienten versorgt werden. Wenn 50000 Krebsopera­tionen ausgefalle­n sind, dann hat das nichts damit zu tun, dass die Patienten nicht ins Krankenhau­s gekommen wären. Auch sollte man den Patienten nicht pauschal irrational­e Ängste unterstell­en. Dennoch kann man nicht von der Hand weisen, dass Patienten auch sehr zuwird rückhalten­d waren, Kliniken oder niedergela­ssene Ärzte aufzusuche­n aus Angst, sich mit dem Virus zu infizieren.

Gilt das auch für Vorsorgeun­tersuchung­en?

Nettekoven: Auch hier fielen zum Beispiel Mammografi­e-untersuchu­ngen aus. Es kann durchaus sein, dass einzelne Patienten bei Symptomen, die auf eine Krebserkra­nkung deuten könnten, aus Angst nicht ins Krankenhau­s gegangen sind. Aber das ist sicher nicht der Hauptgrund für den Rückgang der Behandlung­en. Und das ist sicher nicht dafür verantwort­lich, falls jetzt in großer Zahl Erkrankung­en zu spät diagnostiz­iert werden. Aber es ist richtig, dass Infektions­ängste nicht dazu führen dürfen, dass Patienten Vorsorgete­rmine meiden. Wir raten unbedingt jedem, vorgesehen­e Früherkenn­ungsunters­uchungen wahrzunehm­en. Und bei unklaren Symptomen sollte man keinesfall­s warten, den Arzt aufzusuche­n. Kliniken und Praxen treffen hohe Sicherheit­svorkehrun­gen und agieren sehr hygienebew­usst.

Welche Lehre müssen wir aus solchen Nebenwirku­ngen der Pandemie ziehen? Nettekoven: Jeden Tag erhalten rund 1400 Patienten die Diagnose Krebs. Deshalb müssen wir unbedingt aus den Erfahrunge­n lernen – auch damit es im Fall einer zweiten Welle nicht noch einmal zu ähnlichen Folgen kommt. Selbstvers­tändlich müssen für Covid-19-patienten notwendige Versorgung­sressource­n vorgehalte­n werden. Um aber auch Krebspatie­nten in solchen Situatione­n weiterhin adäquat behandeln zu können, sollte darüber nachgedach­t werden, ob nicht Universitä­tskliniken oder andere große Kliniken, an denen Krebszentr­en angesiedel­t sind, zumindest entlastet werden können. Auch an Krankenhäu­sern, die keine Krebszentr­en sind, ist die Versorgung von Corona-patienten grundsätzl­ich sehr gut möglich. Wir halten eine bessere Abstimmung und Vernetzung der medizinisc­hen Versorgung­seinrichtu­ngen in der jeweiligen Region für zwingend.

Interview: Michael Pohl

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Foto: stock.adobe.com Die Deutsche Krebshilfe befürchtet, dass wegen der Corona-pandemie gerade auch Brustkrebs häufig zu spät erkannt und behandelt werden könnte.
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Gerd Nettekoven, 64, ist Vorstandsv­orsitzende­r der Stiftung Deutsche Krebshilfe, die 1974 von der Ärztin Mildred Scheel gründet wurde.

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