Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Schweden kreisen um sich selbst
Virus Das Land mit der lockeren Corona-strategie ist in Skandinavien zunehmend isoliert. Die Zahl der Infektionen stieg zuletzt wieder. Das hat medizinische, wirtschaftliche und politische Konsequenzen
Stockholm Skandinavien, die Einheit der Länder in Europas Norden, hat ein Loch. Auf der Landkarte ist es ziemlich groß. Schweden ist isoliert, die anderen nordischen Nationen wollen mit dem blau-gelb-beflaggten Nachbarn derzeit nichts zu tun haben. Finnland, Norwegen, Dänemark: Alle haben ihre Grenzen für Bewohner Schwedens dichtgemacht – oder zumindest fast. Nach Dänemark etwa dürfen nur Menschen aus der Öresundregion einreisen, wo seit 20 Jahren eine Seilbrücke die Länder verbindet. Für den Großteil der Schweden ist der Nachbarstaat aber weiterhin tabu. Der Grund ist die Zahl der Corona-infektionen, die seit Anfang Juni in Schweden fast konstant gestiegen ist – in den ersten Tagen des Juli waren es laut der Europäischen Seuchenbehörde knapp 150 Infektionen pro 100 000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es zuletzt unter 20, ebenso in Dänemark. In Norwegen und Finnland sogar weniger als zehn. Mehr als 5500 der rund zehn Millionen Schweden sind an Covid-19 gestorben.
Dabei schien der schwedische Sonderweg in der Corona-krise, der mehr auf die Vernunft der Bürger als auf Restriktionen setzt, anfangs durchaus vielversprechend: Schulen und Kitas blieben offen, genauso Cafés und Geschäfte, Ausgangssperren gab es nicht. Am Ende sollte eine Gesellschaft stehen, die immun ist gegen das Virus (Herdenimmunität) und eine Wirtschaft, die Corona nicht zum Erliegen gebracht hat. Medizinisch ist es zu früh zu sagen, ob die Strategie der Volksgesundheitsbehörde unter ihrem Chef-epidemiologen Anders Tegnell am Ende aufgeht. Tegnell – sozusagen der schwedische Christian Drosten – hat kürzlich Fehler eingeräumt. Rund die Hälfte der 5500 Todesopfer starb in schwedischen Altersheimen. „Es wäre sehr viel besser gewesen, wäre man in Alten- und Pflegeheimen besser vorbereitet gewesen“, sagte Tegnell der größten schwedischen Tageszeitung Dagens
Nyheter. Generell hält der 64-Jährige daran fest, dass Schwedens Weg ein guter ist – und war außer sich, als die Weltgesundheitsorganisation WHO Schweden jüngst als besonders riskantes Land einstufte. Ja, die Infektionszahlen seien gestiegen, erklärte Tegnell – aber das liege vor allem an der wachsenden Zahl an Tests. So beschönigt zwar auch Uspräsident Donald Trump die furchteinflößend steil ansteigende Kurve seines Landes, doch im Fall Schweden lenkte die WHO ein und lobte das Land sogar dafür, dass es eine Corona-untersuchungskommission eingesetzt hat. Sie soll den schwedischen Alternativweg analysieren – auch auf Fehler.
Per Svensson, Politik-kommentator bei Dagens Nyheter, unterstützt die Methoden seines Landes – zumindest „prinzipiell“, wie er gegenüber unserer Redaktion erklärt. Auf die Obrigkeit zu hören und eigenverantwortlich zu handeln, das sei „tief verwurzelt in der schwedischen Geschichte“und im „lutherischen Erbe“des Landes. Wie Luther Gott beschwor, würden sich die Schweden heute gegenseitig bestärken: „Wir glauben der Volksgesundheitsbehörde.“In einer – jedoch nicht repräsentativen – Online-umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar Sifo äußerten 68 Prozent der Bürger Ende Juni Vertrauen in die Pläne der Volksgesundheitsbehörde. Allerdings verbreiten sich die Zweifel: Ende April noch hatten mehr als 80 Prozent deren Strategie befürwortet.
Dass sie in ihren Nachbarländern als Seuchengefahr gelten, hat viele Schweden beleidigt und in ihrem Nationalstolz getroffen. Sie lassen gezwungenermaßen ihr Urlaubsgeld im eigenen Land: Hemester, so nennt man in Schweden den Urlaub daheim oder im eigenen Sommerhäuschen in der Natur, in dem so viele Schweden ohnehin jede freie Minute verbringen.
Die Wirtschaft kann davon nur profitieren. Wie ganz Europa ächzt auch die stark vom internationalen Handel abhängige schwedische Konjunktur unter einem Einbruch. Wirtschaftlich hat die Alternativstrategie Schweden im Vergleich zu seinen skandinavischen Nachbarn keinen entscheidenden Vorteil gebracht. Man muss zwar klar sagen:
Neben Deutschland, Luxemburg und Polen sind Dänemark und Schweden die Länder, die laut der Konjunkturprognose der EU am besten durch die Krise kommen werden. Die dänische Zentralbank prophezeit ihrem Land ein Wirtschaftsminus von 4,1 Prozent, die schwedische einen Rückgang von 4,5. Die schwedischen Todesraten hingegen sind neunmal so hoch wie in Dänemark mit seiner Coronastrategie, die ähnlich vorsichtig war und ist wie in Deutschland.
In Skandinavien hat die Diskussion zum Umgang mit dem Virus längst die rein medizinische Ebene verlassen. Journalist Per Svensson ist überzeugt davon, dass gerade die Grenzschließungen zwischen den Ländern teils mehr politisch als medizinisch motiviert sind. Warum sonst sollten die meisten Schweden nicht in Dänemark einreisen dürfen, die Dänen selbst aber ungehindert ihre Zimtschnecke in Malmö genießen? Nicht nur Per Svensson findet das unlogisch. „Was gerade passiert, verletzt die Beziehung zwischen den nordischen Ländern“, sagt er. Es geht ihm zufolge um viel mehr als um die richtige Corona-strategie. Svensson erklärt das anhand der Öresund-brücke. „Sie war einst Symbol für ein Europa ohne Grenzen.“Jetzt sei das anders.
Svensson erklärt es mit einer Entwicklung, die weit vor Corona begann. Die Beziehung zwischen Schweden und Dänemark veränderte sich demnach bereits 2015, in der Zeit der Flüchtlingsströme. Schweden führte damals Grenzkontrollen an der Brücke ein, Asylbewerber strandeten in Dänemark. Und die Dänen fürchteten um die aufstrebende Wirtschaftsregion am Öresund, in die beide Länder gemeinsam investiert hatten. Svensson – und damit zurück zum Coronavirus – ist sicher, dass Dänemarks Abschottung damit zusammenhängt. „Jetzt ist die Brücke ein Grenzkontrollpunkt.“Und sie sei noch mehr: „Ein Symbol für ein nationalistischeres und ängstlicheres Europa.“Eines, in dem sich in der Krise jedes Land selbst das nächste ist.