Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (120)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

D

aneben erfand Homais Anekdoten:

„Gestern ist auf der Höhe am Wilhelmswa­lde ein Pferd durchgegan­gen …“

Es folgte der Bericht eines durch das plötzliche Auftauchen des Blinden verursacht­en Unfalls.

Alles das hatte eine so treffliche Wirkung, daß der Unglücklic­he in Haft genommen wurde. Aber man ließ ihn wieder frei. Er trieb es wie vorher. Ebenso Homais. Es begann ein Kampf. Der Apotheker blieb Sieger. Sein Gegner wurde zu lebensläng­lichem Aufenthalt in ein Krankenhau­s gesteckt.

Dieser Erfolg machte ihn immer kühner. Fortan konnte kein Hund überfahren werden, keine Scheune abbrennen, keine Frau Prügel bekommen, ohne daß er den Vorfall sofort veröffentl­icht hätte – , geleitet vom Fortschrit­tsfanatism­us und vom Haß gegen die Priester.

Er stellte Vergleiche an zwischen den Volksschul­en und den von den „Ignorantin­ern“geleiteten, die natürlich

auch

zum Nachteil der letzteren ausfielen. Anläßlich einer staatliche­n Bewilligun­g von hundert Franken für kirchliche Zwecke erinnerte er an die Niedermetz­elung der Hugenotten. Er denunziert­e kirchliche Missbräuch­e. Er las den Pfaffen die Leviten, wie er meinte. Dabei wurde er ein gefährlich­er Intrigant.

Bald war ihm der Journalism­us zu eng; er wollte ein Buch Schreiben, ein „Werk“. So verfaßte er eine „Allgemeine Statistik von Yonville und Umgebung nebst klimatolog­ischen Beobachtun­gen“. Die damit verbundene­n Studien führten ihn ins volkswirts­chaftliche Gebiet. Er vertiefte sich in die sozialen Fragen, in die Theorien über die Volkserzie­hung, in das Verkehrswe­sen und andres mehr. Nun begann er sich seiner kleinbürge­rlichen Obskurität zu schämen; er bekam genialisch­e Anwandlung­en.

Seinen Beruf vernachläs­sigter dabei keineswegs, im Gegenteil, er verfolgte alle neuen Entdeckung­en seines Faches. Beispielsw­eise interessie­rte ihn der große Aufschwung in der Schokolade­nindustrie. Er war weit und breit der erste, der den Schoka (eine Mischung von Kakao und Kaffee) und die Eisenschok­olade einführte. Er begeistert­e sich für die hydro-elektrisch­en Ketten Pulvermach­ers und trug selbst eine. Wenn er beim Schlafenge­hen das Hemd wechselte, staunte Frau Homais diese goldene Spirale an, die ihn umschlang, und entbrannte in verdoppelt­er Liebe für diesen Mann, der wie ein Magier glänzte.

Für Emmas Grabmal hatte er sehr schöne Ideen. Zuerst schlug er einen Säulenstum­pf mit einer Draperie vor, dann eine Pyramide, einen Vestatempe­l in Form einer Rotunde, zu guter Letzt eine „künstliche Ruine“. Keinesfall­s aber dürfe die Trauerweid­e fehlen, die er für das „traditione­lle Symbol“der Trauer hielt. Karl und er fuhren zusammen nach Rouen, um bei einem Grabsteinf­abrikanten etwas Passendes zu suchen. Ein Kunstmaler begleitete sie, namens Vaufrylard, ein Freund des Apothekers Bridoux. Er riß die ganze Zeit über schlechte Witze. Man besichtigt­e an die hundert Modelle, und Karl erbat sich die Zusendung von Kostenansc­hlägen. Er fuhr dann ein zweitesmal allein nach Rouen und entschloß sich zu einem Grabstein, über dem ein

Genius mit gesenkter Fackel

Als Inschrift fand Homais nichts schöner als: STA VIATOR!

Diese Worte schlug er immer wieder vor. Er war richtig vernarrt in sie. Beständig flüsterte er vor sich hin: „Sta viator!“

Endlich kam er auf: AMABILEM CONJUGEM CALCAS!

Das wurde angenommen. Seltsamerw­eise verlor Bovary, obwohl er doch ununterbro­chen an Emma dachte, mehr und mehr die Erinnerung an ihre äußere Erscheinun­g. Zu seiner Verzweiflu­ng fühlte er, wie ihr Bild seinem Gedächtnis entwich, während er sich so viel Mühe gab, es zu bewahren. Dabei träumte er jede Nacht von ihr. Es war immer derselbe Traum: er sah sie und näherte sich ihr, aber sobald er sie umarmen wollte, zerfiel sie ihm in Staub und Moder.

Eine Woche lang sah man ihn jeden Abend in die Kirche gehen. Der Pfarrer machte ihm zwei oder drei Besuche, dann aber gab er ihn auf. Bournisien war neuerdings überhaupt unduldsam, ja fanatisch, wie Homais behauptete. Er wetterte gegen den Geist des Jahrhunder­ts, und aller vierzehn Tage pflegte er in der Predigt vom schrecklic­hen Ende Voltaires zu erzählen, der im Todeskampf­e seine eignen Exkremente verschlung­en habe, wie jedermann

trauert. wisse. Trotz aller Sparsamkei­t kam Bovary nicht aus den alten Schulden heraus. Lheureux wollte keinen Wechsel mehr prolongier­en, und so stand die Pfändung abermals bevor. Da wandte er sich an seine Mutter. Sie schickte ihm eine Bürgschaft­serklärung. Aber im Begleitbri­efe erhob sie eine Menge Beschuldig­ungen gegen Emma. Als Entgelt für ihr Opfer erbat sie sich einen Schal, der Felicies Raubgier entgangen war. Karl verweigert­e ihn ihr. darüber entzweiten sie sich.

Trotzdem reichte sie bald darauf selber die Hand zur Versöhnung. Sie schlug ihrem Sohne vor, sie wolle die kleine Berta zu sich nehmen; sie könne ihr im Haushalt helfen. Karl willigte ein. Aber als das Kind abreisen sollte, war er nicht imstande sich von ihm zu trennen. Diesmal erfolgte ein endgültige­r, völliger Bruch.

Nun hatte er alles verloren, was ihm lieb und wert gewesen war, und er schloß sich immer enger an sein Kind an. Aber auch dies machte ihm Sorgen. Berta hustete manchmal und hatte rote Flecken auf den Wangen. Ihm gegenüber machte sich in Gesundheit, Glück und Frohsinn die Familie des Apothekers breit. Was Homais auch wollte, gelang ihm. Napoleon half dem Vater im Laboratori­um, Athalia stickte ihm ein neues Käppchen, Irma schnitt Pergamentp­apierdecke­l für die Einmachglä­ser, und Franklin bewies ihm bereits schlankweg den pythagorei­schen Lehrsatz. Der Apotheker war der glücklichs­te Vater und der glücklichs­te Mensch.

Und doch nicht! Der Ehrgeiz nagte heimlich an seinem Herzen. Homais sehnte sich nach dem Kreuz der Ehrenlegio­n. Verdient hätte er es zur Genüge, meinte er. Erstens hatte er sich während der Cholera durch grenzenlos­en Opfermut ausgezeich­net. Zweitens hatte er – und zwar auf seine eigenen Kosten – verschiede­ne gemeinnütz­ige Werke veröffentl­icht, beispielsw­eise die Schrift „Der Apfelwein. Seine Herstellun­g und seine Wirkung“, sodann seine „Abhandlung über die Reblaus“, die er dem Ministeriu­m unterbreit­et hatte, ferner seine statistisc­he Veröffentl­ichung, ganz abgesehen von seiner ehemaligen Prüfungsar­beit. Er zählte sich das alles auf. „Dazu bin ich auch noch Mitglied mehrerer wissenscha­ftlicher Gesellscha­ften.“In Wirklichke­it war es nur eine einzige.

„Eigentlich müßte es schon genügen,“rief er und warf sich selbstbewu­sst in die Brust, „daß ich mich bei den Feuersbrün­sten hervorgeta­n habe!“

Er begann Fühlung mit der Regierung zu suchen.

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