Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Neuer Streit um Zahl der Kliniken

Eine Bertelsman­n-studie lieferte 2019 Argumente für flächendec­kende Krankenhau­s-schließung­en. Kritiker der Analyse sehen sich mit Blick auf Corona bestätigt

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Weniger Kliniken, bessere medizinisc­he Qualität – dies war die Quintessen­z einer groß angelegten Studie der Bertelsman­n-stiftung, die im Sommer 2019 für Furore sorgte. In Zahlen: Bis 2030 sollten, so die Empfehlung, von 1400 Krankenhäu­sern nur knapp 600 übrig bleiben – bei gleichzeit­iger Verbesseru­ng der ärztlichen Versorgung. Die Reaktionen auf die Vorschläge zur Neuordnung der Krankenhau­slandschaf­t entfachten eine Debatte wie nur wenige Analysen der Stiftung zuvor. Über das Expertente­am fegte auf Facebook, Twitter und Co. ein regelrecht­er „Shit– storm“hinweg, wie der Leiter der Studie, Jan Böcken, im Gespräch mit unserer Redaktion einräumte. Einigkeit gibt es nur in einem Punkt: Das Land braucht eine Krankenhau­s-reform.

Mit Blick auf Corona flammt die Debatte über die Thesen der „Bertelsmän­ner“wieder auf. Die Gegner flächendec­kender Klinik-schließung­en sehen sich in ihrer Warnung vor einer zu weit gehenden Kommerzial­isierung auf dem Gesundheit­ssektor bestätigt: „Ein Abbau

Versorgung­skapazität­en, den uns immer wieder verschiede­ne politikber­atende Stiftungen empfehlen, hätte bei uns im März und April zu gleichen Verhältnis­sen geführt wie in Spanien und Italien“, sagte der Chef der Bundesärzt­ekammer, Klaus Reinhardt. Kliniken seien eine „Einrichtun­g der Daseinsvor­sorge“und keine „Industrieb­etriebe“. Das System „flächendec­kender ambulanter ärztlicher Versorgung“habe Deutschlan­d vor einer Überforder­ung der Krankenhäu­ser bewahrt.

Reinhard argumentie­rt aus Sicht des Vorsitzend­en der Geschäftsf­ührung der München Klinik, Axel Fischer, „zu populistis­ch“. „Wir haben ein System, das zu sehr auf Kapazitäte­n ausgericht­et ist und zu wenig auf messbare medizinisc­he Qualität. Daneben setzt es wirtschaft­liche Fehlanreiz­e und vergütet Notfallver­sorgung, Geburten und Altersmedi­zin zu wenig“, sagte Fischer unserer Redaktion. Für ihn gehe die Bertelsman­n-analyse in die richtige Richtung. Allerdings sei er, „was die Schließung von Kliniken betrifft, etwas überrascht über die Radikalitä­t der Forderunge­n“gewesen.

Die Studie hatte für den Großraum Köln/leverkusen ermittelt, dass die Region mit 14 statt der aktuell 38 Akutkranke­nhäuser besser fahren würde. Auf dieser Basis wurde das deutschlan­dweite Rechenmode­ll erarbeitet. Die Fachleute gingen davon aus, dass es schlicht zu wenige gut ausgebilde­te Ärzte und Pflegekräf­te gibt, um das derzeitige System aufrechtzu­erhalten. Ihre These: Eine schnell erreichbar­e Klinik ist in vielen Fällen nicht allzu viel wert, wenn es dort an Fachärzten mangelt. Das führe gerade bei den kleinen Häusern mit weniger als 200 Betten – immerhin 57 Prozent der deutschen Krankenhäu­ser – zu Problemen. An diesen Standorten würden oft technische Geräte, wie Computerto­mografen, fehlen. Zudem hätten die Ärzte geringere Erfahrunge­n bei der Versorgung von lebensbedr­ohlichen Notfällen.

Eine Sichtweise, die nicht zuletzt in kleineren Kliniken in Schwaben und dem Allgäu für handfeste Zukunftsän­gste sorgte. Ihr Gegenargud­er ment: Ohne sie würde der Weg in die nächste Klinik noch länger werden. Die Macher der Studie verwiesen auf ihren Vorschlag, Häuser, die nicht mehr für die stationäre Behandlung benötigt werden, in „Behandlung­sund Versorgung­szentren“umzubauen. „Wir wollen nicht zuletzt Landräten, die erkennen, dass in ihrem Kreis eine Klinikschl­ießung vernünftig wäre, Argumente liefern“, sagte Studienlei­ter Böcken vor Jahresfris­t. Doch in Zeiten der Pandemie dürfte dies noch schwerer werden.

Die Bertelsman­n-stiftung hält auch in der Corona-krise im Kern an ihren Reformgeda­nken fest. Allerdings sei es angesichts der andauernde­n Bedrohung durch das Virus zu früh, „Schlussfol­gerung für die künftige Krankenhau­sstruktur zu ziehen“. Axel Fischer hingegen ist sich sicher, dass bestehende Defizite durch Corona „noch deutlicher“zutage treten werden: „Wir haben auf die Pandemie rechtzeiti­g reagiert und konnten uns vorbereite­n. Auch hier gilt: Wenn es Engpässe gegeben hätte, dann, weil uns irgendwann das wichtige Pflegepers­onal zur Betreuung der Infizierte­n ausgegange­n wäre.“

Besonders kleinere Häuser fürchten um ihre Zukunft

 ?? Foto: Jens Büttner, dpa ?? Ist das deutsche Krankenhau­ssystem ein Fall für die Notaufnahm­e? Der im internatio­nalen Vergleich glimpflich­e Verlauf der Corona-krise im Land scheint für die Leistungsf­ähigkeit der Kliniken zu sprechen. Doch es gibt weiterhin Kritik – aus völlig verschiede­nen Richtungen.
Foto: Jens Büttner, dpa Ist das deutsche Krankenhau­ssystem ein Fall für die Notaufnahm­e? Der im internatio­nalen Vergleich glimpflich­e Verlauf der Corona-krise im Land scheint für die Leistungsf­ähigkeit der Kliniken zu sprechen. Doch es gibt weiterhin Kritik – aus völlig verschiede­nen Richtungen.

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