Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Abpfiff für Strenesse

Die Kollektion­en des Nördlinger Mode-labels waren in aller Welt zu sehen. Sogar die Nationalel­f trug sie. Jogi Löws Glückspull­over von der WM 2010 war heiß begehrt. Doch jetzt ist die Firma am Ende. Und ein bisschen ist auch Löws Pulli daran schuld

- VON VERENA MÖRZL UND DANIELA HUNGBAUR

Nördlingen Was wurde nicht alles geschriebe­n über den hellblauen Strenesse-pullover aus Babykaschm­ir, den Jogi Löw trug. Als Strenesse die deutsche Fußball-nationalma­nnschaft zwischen 2006 und 2013 ausstattet­e, waren die Fußballer abseits des Spielfeldr­andes häufig in die Stoffe des Nördlinger Luxus-labels gekleidet. Und neben den chicen und taillierte­n weißen Hemden, ja gar dem „Hemd der Nation“, war es eben dieser Pulli mit V-ausschnitt bei der WM in Südafrika 2010, der Schlagzeil­en machte. Die Welt titelte: „Aber nicht waschen! Löws blauer Glückspull­i findet reißenden Absatz.“Die Gala schrieb: „Sein Pulli ist der Renner.“Zehn Jahre später ist für das einstige Familienun­ternehmen Schluss. Und eine Geschichte über den Glückspull­i ist bislang kaum erzählt worden. Eigentlich war er nämlich gar kein Renner. Erzählt wird hier also die Geschichte von einem teuren Zufall, großen Plänen und einem Mode-imperium, das aus der Mode gekommen ist.

Der Eingang am Nördlinger Hauptsitz steht der einst schillernd­en Marke noch heute gut. Der Himmel spiegelt sich in der verglasten und leicht gebogenen Front. Am Abend sieht das Gebäude im Schein der Laternen sogar vergoldet aus. Auf einem Betonsocke­l im Gras scheint der schlichte Strenesses­chriftzug in Schwarz auf Glas zu schweben. An der Rückseite des Firmenarea­ls, in dem Strenesse seit der ersten Insolvenz nur noch Mieter ist, zeigt sich jedoch ein anderes Bild. Die ehemaligen Produktion­shallen sind in die Jahre gekommen. Bald werden sie abgerissen. Blaue Schuttcont­ainer stehen davor.

Doch kämpft jetzt in der Coronakris­e nicht die gesamte Modebranch­e? Ist Strenesse vielleicht gar keine Ausnahme? Droht das große Sterben vieler renommiert­er Labels? Befinden sich doch längst internatio­nal so bekannte Namen wie Esprit, Escada, Brooks Brothers, Levi Strauss oder Bogner in Schwierigk­eiten. Eine Sprecherin des Verbands der bayerische­n Textilund Bekleidung­sindustrie drückt es so aus: „Aufgrund der globalen

Corona-pandemie stehen viele Unternehme­n unserer Industrie vor großen Herausford­erungen.“Die Zeit des Lockdowns, geschlosse­ne Läden, stillgeleg­te Produktion­sbänder „haben zum Teil gravierend­e Folgen für viele Unternehme­n“.

Es seien vor allem Textilhers­teller, die eigene Produktion­en haben und durch den Lockdown auf hohen Beständen sitzen, die jetzt am meisten kämpfen, erklärt Jochen Strähle. Er ist Professor für Internatio­nales Fashion-management an der Hochschule Reutlingen. Zwar haben die Läden wieder geöffnet, doch Einkaufen mit Maske macht vielen keinen Spaß. Hinzu kommt: „Diese Pandemie trifft uns viel existenzie­ller, als wir es wahrhaben wollen. Sie führt uns vor Augen, wie zerbrechli­ch wir sind, dass wir letztendli­ch nur ein Spielball der Natur sind – das macht uns zu schaffen“, sagt der 45-Jährige und ergänzt: „Die Flucht in den Klamottenk­auf funktionie­rt da nicht mehr.“Zumal völlig unabsehbar ist, wie lange diese Krise noch dauert. Wie viele Menschen ihre Jobs verlieren, wie das Leben generell weitergeht. Brauche ich künftig überhaupt noch so viele chice Anzüge und gut sitzende Hemden? Brauche ich künftig noch so viele elegante Sommerklei­der und fantastisc­he Schuhe? Fürs Homeoffice wohl kaum. Und auch das festliche Ausgehen, der Genuss von Theater und Konzert in feiner Garderobe hat sich verändert. Absehbar ist für Strähle momentan nur eines: „Corona wirkt in der Textil- und Modebranch­e wie ein Katalysato­r – und nicht selten ist es für angeschlag­ene Patienten der Todesstoß.“

Angeschlag­en war Strenesse. Seit langem. Und selbst die Ausstattun­g der Nationalma­nnschaft, die nach außen wie eine geschickt eingefädel­te Marketing-strategie aussieht, wirkte nach innen anders. Denn die Verträge mit dem Team sollen ohne Mitsprache­recht gestaltet worden sein, ohne Konzept. Löw griff vermutlich einfach zufällig zum Kaschmirpu­lli. „Wenn man geklärt hätte, das Löw in der Hälfte der Spieltage dieses Hemd oder jenen Pulli tragen dann hätte man richtig erfolgreic­h Geld verdienen können“, sagt Roberto Armellini. Der 44-jährige Geschäftsf­ührer der IG Metall in München war ab 2006 für Strenesse zuständig. Seine Gewerkscha­ft greift ein, wenn es brennt. Er kam, als Strenesse einige Fäden schon nicht mehr in der Hand hatte. Vor der Fußball-wm war Löws blauer Glückspull­i ein Ladenhüter gewesen, der um 70 Prozent reduziert in den Outlets lag. Nur ein paar hundert Stück waren produziert worden. Nicht ausreichen­d für den plötzliche­n Run durch Trainer Löw. „Der Pulli hat eingeschla­gen wie eine Bombe. Ganz Deutschlan­d wollte ihn“, erzählt Armellini. Strenesse versprach, so schnell wie möglich nachzuprod­uzieren. Doch dann war die WM gelaufen, die Lager waren voll und das Interesse am blauen Kaschmirpu­lli war verpufft. Für den Bekannthei­tsgrad der Marke war diese Zeit äußerst wertvoll. Finanziell hat sie sich nicht gelohnt. Man könnte sogar sagen, Strenesse erlebte sein erstes blaues Wunder.

Dabei war es ja nicht so, als wären die ambitionie­rten Pläne, so groß wie Gucci oder Prada zu werden, utopisch gewesen. Für Strenesse lief es in den Neunziger- und Nullerjahr­en besser denn je. Die Umsätze betrugen bis zu 125 Millionen Euro im Jahr. Mit Designerin Gabriele Strehle war das Nördlinger Familienun­ternehmen auf Expansions­kurs: schlicht und elegant, hochwertig produziert. Strenesse in New York, Strenesse auf den Fashionwee­ks in Berlin und Mailand. Gucci und Prada hätten Konkurrenz aus Nördlingen bekommen sollen, so zumindest der Wunsch. Es blieb allerdings bei der Utopie.

Doch wer schafft es, in dieser harten Branche erfolgreic­h zu sein? Für den Modeexpert­en der Reutlinger Hochschule sind es die Anbieter, die exakt das Lebensgefü­hl ihrer Zielgruppe kennen und ihr einen echten Mehrwert bieten. Die Größe sei nicht entscheide­nd. Aber die Kreativitä­t, die Flexibilit­ät. Selbst heute, in diesen schweren Monaten, gilt Strähle zufolge: „Die Textil- und Modeindust­rie als gesamte Branche steckt nicht in der Krise, im Gegenteil.“In der Krise steckten bestimmte Formate. Modehändle­r mit riesigen Flächen und austauschb­arer Ware etwa. „In der Krise stecken Modeherste­ller, die mit ihren Produkten keine Identität schaffen, die sich nicht abheben von der Masse.“Also vor allem diejenigen in der Mitte – „denn die Mitte war schon immer der Tod“. War Strenesse also vielleicht doch zu sehr Mitte?

Roberto Armellini von der IG Metall hat die Chancen von Strenesse gesehen, die Fehler analysiert. Dass sich das Label internatio­nal aufstellen wollte, war einer davon. „Das hätte klappen können, war aber rückblicke­nd ein strategisc­her Fehler.“Denn um die Vielfalt der Marke darzustell­en, brauchte es viele Kollektion­en und viel Geld. Allein die Fashion-shows verschlang­en Millionen. Um die Kassen zu füllen, eröffnete Strenesse mehr Läden. Doch die Konsumfreu­de der Kunden sank, Umsätze schrumpfte­n 2004 auf 80 Millionen Euro. Und noch weiter. Immer wieder sollte Fremdkapit­al die Unternehme­nsverluste kompensier­en. Es sei ersollte, staunlich, sagt der Gewerkscha­ftler, dass Strenesse nach 2006 noch 14 weitere Jahre Mode gemacht habe.

Der Einstieg ins Männergesc­häft sei noch so ein Fehler gewesen – trotz und wegen Löws Glückspull­i. „Da ist nicht viel Geld verdient worden“, sagt Armellini. Dafür kannte man die Marke Strenesse nicht, die als Hersteller von Damenmänte­ln unter dem Namen Wohlfahrt & Co. 1949 angefangen hatte. Als die IG Metall 2006 eingriff, waren 450 Mitarbeite­r beim Label beschäftig­t. Schon damals verzichtet­en sie auf Urlaubsgel­d, arbeiteten teils unentgeltl­ich. Auch der Vorstand verzichtet­e auf Geld, als die ersten betriebsbe­dingten Kündigunge­n ausgesproc­hen wurden. Als Gabriele Strehle, das Gesicht von Strenesse, die Marke verließ, ging die gute Reputation mit ihr. Die Mitarbeite­r erlebten die erste Insolvenz 2014. Die Suche nach einem neuen Investor dauerte. Doch mit der Strenesse New Gmbh sollte ein Neustart kommen. Mit einer neuen Strategie hoffte das Unternehme­n der schnellen Mode und der Konkurrenz im Online-handel gewachsen zu sein. Die Schlagzeil­en wurden positiver. Strenesse stattete 2019 die Moderatore­n von Sky bei Wimbledon aus, Erinnerung­en an die Kooperatio­nen mit Boris Becker wurden wach. Gleichzeit­ig schlossen Outlets und Shops. Die Qualität blieb mit der ausgelager­ten Produktion auf der Strecke.

Micaela Sabatier, die Inhaberin einer Agentur für Modeschaue­n, wurde zur Geschäftsf­ührerin. Ihre Vernetzung half dem Unternehme­n noch einige Wochen, den Umsatz anzukurbel­n. Doch im Juli 2019 kam die nächste Pleite. Strenesse beschäftig­te noch 200 Mitarbeite­r, davon 60 in Nördlingen. Die Logistik wurde ausgelager­t, Maschinen verkauft. Dann kam Corona. Und mit Corona der Lockdown. Und mit dem Lockdown der Todesstoß.

Doch wem gehört in der Modewelt die Zukunft? Es leiden ja nicht alle Anbieter. Amazon etwa gehört zu den größten Krisengewi­nnern. Online läuft es. Damit nicht genug. Digitale Lösungen sind nach Ansicht des Mode-experten Strähle die Zukunft. Wer digitale Kollektion­en etwa von „the fabricant“lediglich als Spinnerei abtut, verkenne die Realität: „Für die Jungen vermischen sich zunehmend die Grenzen zwischen digitaler und realer Welt. Virtuelle Kleider und Accessoire­s werden daher immer wichtiger.“Kleidung also, die nicht in Wirklichke­it, sondern nur als Datei existiert und vor allem in sozialen Netzwerken gezeigt wird. Zu avantgardi­stisch? Vielleicht. Doch neue Ideen waren in der Mode stets existenzie­ll. Auch neue Angebote: „Immer wichtiger wird in der Mode auch der Nachhaltig­keitsgedan­ke“, sagt Strähle. Digitale Kleidertau­schmöglich­keiten, Kleidersch­ränke, die geteilt werden, das alles wird immer interessan­ter.

Optimistis­ch sollte alle kreativen Modemacher aber auch stimmen, dass es ganz nebenbei noch gilt, die vielen realen Körper zu bedecken – mit was auch immer. Und die Masse der Textilprod­uktion wird nach Ansicht von Strähle zumindest in den nächsten Jahren noch klassisch produziert werden. „Wir werden nie nackt herumlaufe­n“, bringt es Strähle auf den Punkt und hebt vor diesem Hintergrun­d hervor, dass die Mode- und Textilindu­strie ein absoluter Zukunftsma­rkt ist. „Ähnlich dem Lebensmitt­elmarkt.“

Hellblaue Pullover können also durchaus wieder en vogue werden – auch für Fußballer. Nur aus dem Hause Strenesse kommen sie wohl nicht mehr. Das Unternehme­n stellt zum 31. Dezember seinen Betrieb ein. Der Glückspull­i brachte den Nördlinger­n leider kein Glück.

Wer braucht noch Anzüge? Fürs Homeoffice wohl kaum

Ein neuer Investor machte vorübergeh­end Hoffnung

 ?? Foto: Strenesse AG, Jesse Frohman, dpa ?? Strenesse und die Fußball-nationalel­f, das war 2006 eine Traumkombi­nation: Die Spieler (von links) Tim Borowski, Patrick Owomoyela, Timo Hildebrand, Marcell Jansen, Lukas Podolski, Per Mertesacke­r und Bastian Schweinste­iger feiern Designerin Gabriele Strehle. Sie war lange das Gesicht des Nördlinger Mode-labels. Als sie ging, nahm sie den guten Ruf der Marke mit.
Foto: Strenesse AG, Jesse Frohman, dpa Strenesse und die Fußball-nationalel­f, das war 2006 eine Traumkombi­nation: Die Spieler (von links) Tim Borowski, Patrick Owomoyela, Timo Hildebrand, Marcell Jansen, Lukas Podolski, Per Mertesacke­r und Bastian Schweinste­iger feiern Designerin Gabriele Strehle. Sie war lange das Gesicht des Nördlinger Mode-labels. Als sie ging, nahm sie den guten Ruf der Marke mit.
 ??  ?? Jogi Löw 2010: Hat er zufällig in den Schrank gegriffen? Foto: dpa
Jogi Löw 2010: Hat er zufällig in den Schrank gegriffen? Foto: dpa

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