Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Zwischen Wut und Verzweiflung
Die Explosion im Hafen von Beirut hat den Libanon ins Mark getroffen. Die Menschen stürzen in Armut, Geld für einen Wiederaufbau fehlt. Die Empörung bekommt auch Frankreichs Präsident zu spüren
Beirut Auf ihrem letzten Foto strahlten die Feuerwehrleute in dem Minibus gut gelaunt in die Kamera. Das zehnköpfige Team ahnte offensichtlich nicht, welches Inferno auf sie wartete. Vor Ort versuchten sie zunächst, mit einer Brechstange das schwere Eisentor der Halle 12 zu öffnen, um an den Brandherd heranzukommen, dessen Rauch aus den Oberlichtern quoll. Plötzlich explodierte die Halle neben dem gigantischen Getreidesilo. Kaum 30 Sekunden später dann verwandelte ein orangeroter Mammutpilz von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat halb Beirut in ein Trümmerfeld. 137 Tote wurden bisher geborgen, darunter die zehn Feuerwehrleute sowie eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft. Über 5000 Menschen sind verletzt, 300 000 verloren ihre Wohnungen.
Und so konzentriert sich die verzweifelte Wut der Libanesen jetzt vor allem auf die Frage, wer die Verantwortung für die Beiruter Jahrhundertkatastrophe trägt. Zum einen geht es darum, warum eine solch monumentale Menge Ammoniumnitrat über sechs Jahre im Hafen deponiert wurde und warum niemand einen Finger rührte, diese tödliche Gefahr zu entschärfen. Zum anderen geht es darum, was genau in der Halle 12 geschah, warum dort ein Feuer ausbrach und ob dort noch anderes Explosivmaterial gelagert war, das die apokalyptische Eskalation dann auslöste.
Bis kommenden Montag gab Libanons Regierung der nationalen Untersuchungskommission Zeit. Sämtliche Verantwortliche des Hafens, die sich der Gefahr in Halle 12 seit Jahren bewusst waren, wurden unter Hausarrest gestellt. Sie alle gelten als hochkorrupt. Der amtierende Militärrichter Fadi Akiki teilte laut der staatlichen Nachrichtenagentur NNA am Donnerstagabend mit, dass 16 Mitarbeiter des Hafens festgenommen worden sind.
Heimlicher Herrscher an den Kais ist die Hisbollah. Die Schmiergelder der Importeure machten den Beiruter Hafen zu einer der lukrativsten Einnahmequellen des Landes. Der Chef der Zollbehörde, Badri Daher, dagegen reklamierte für sich in einem Fernsehinterview, zwischen 2014 und 2017 in sechs Briefen an die Justiz vor den Gefahren gewarnt und einen Export des Ammoniumnitrats, eine Übergabe an die Armee oder einen Verkauf an die private „Lebanese Explosives Company“vorgeschlagen zu haben, ohne dass jemals eine Reaktion erfolgte. Seit Mittwoch werden die für Beirut bestimmten Schiffe zu dem wesentlich kleineren Hafen von Tripoli umgeleitet. Nach Informationen der Zeitung L’orient – Le Jour hat dort nach dem Beiruter Unglück bereits der Streit zwischen den Clans
wie künftig die Schmiergelder für die zusätzlichen Beirutcontainer verteilt werden sollen.
Wegen dieser allgegenwärtigen Korruption bezweifeln viele Libanesen, dass die ganze Wahrheit über Halle 12 jemals ans Tageslicht kommt. Er habe keine Ahnung, was das erste Feuer ausgelöst habe, sagte der Generaldirektor des Hafens, Hassan Koraytem, und fügte hinzu, es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, nach Schuldigen zu suchen. „Wir leben in einer nationalen Katastrophe.“Libanons Innenminister Mohammad Fahmy erklärte, man brauche bei den Ermittlungen keine Unterstützung internationaler Experten. Das nährt den Verdacht, dass sich in Halle 12 möglicherweise auch ein Waffenlager der Hisbollah befand, in dem die verheerende Apokalypse ihren Ausgang nahm. Die Us-regierung allerdings stellte klar, dass sie nicht von einer Initialzündung durch eine Terrorbombe oder durch einen Luftangriff ausgeht. Die Umstände, die zu der Detonation des gelagerten Materials führten, seien bisher nicht klar, schrieb „Human Rights Watch“und forderte internationale Ermittlungen zu dem Unglück. Dies sei „die beste Garantie, dass die Opfer der Explosion die Gerechtigkeit bekommen, die sie verdienen“. Man habe ernste Zweifel an der Fähigkeit der libanesischen Justiz, in eigener Regie eine glaubwürdige und transparente Untersuchung durchzuführen, zumal offenbar einige Richter von dem Ammoniumnitrat gewusst hätten, ohne etwas zu unternehmen.
Das Feuerwehrteam jedenfalls war völlig ahnungslos. Keiner der Verantwortlichen hielt es offenbar für nötig, die Einsatzkräfte auf das Ammoniumnitrat am Brandort hinzuweisen, sodass die Männer direkt in ihren Tod liefen. „Diese Feuerwehrleute verloren ihr Leben, als sie versuchten, das Leben anderer zu schützen. Bewahrt ihre Gesichter im Gedächtnis“, schrieb jemand unter ihr Foto auf Twitter.
Unterdessen lief eine Welle internationaler Hilfe an. Flugzeuge landen auf dem Flughafen von Beirut, der weitgehend unbeschädigt geblieben ist. An Bord haben die Hilfsbegonnen, teams Medikamente, Zelte und Feldlazarette. Von den örtlichen Krankenhäusern wurden vier völlig zerstört, zwei sind beschädigt. Die anderen sind auch wegen einer steigenden Zahl von Corona-patienten total überlastet. Manche Kliniken mussten Verletzte abweisen. Retter mit Hundestaffeln versuchten, noch Lebende unter den Trümmern eingestürzter Häuser zu finden. Die Vereinten Nationen (UN) wollen mit mindestens 7,6 Millionen Euro Soforthilfe die unmittelbare Not nach der Explosionskatastrophe in
Die Feuerwehrleute liefen in den sicheren Tod
Beirut mindern. Unter anderem sollen Krankenhäuser bei der Ausstattung für Intensivstationen und bei Medikamenten finanziell unterstützt werden, sagte ein Un-sprecher am Donnerstag in New York.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reiste als erster ausländischer Staatschef nach Beirut, wo er bei einer Tour durch das zerstörte Stadtzentrum von wütenden Anwohnern mit Buhrufen empfangen wurde. „Wir lassen den Libanon nicht allein“, sagte er, mahnte aber gleichzeitig die politische Klasse des Landes, wenn die dringend nötigen Reformen nicht angepackt würden, werde es „mit dem Libanon weiter bergab gehen“. Er kündigte zudem eine internationale Hilfskonferenz für den Libanon an. Die Hilfe an Ort und Stelle solle von den Vereinten Nationen und der Weltbank koordiniert werden, sagte der Präsident Macron vor Journalisten. So solle sichergestellt werden, dass die Hilfe direkt die Bevölkerung erreiche.