Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Vielen indigenen Völkern droht die Auslöschun­g

Die schwierige Lage vieler Stämme und Völker hat sich durch Corona verschärft

- VON GERD BRAUNE

Ottawa Schrecklic­he Erfahrunge­n vieler indigener Völker könnten sich durch die Covid-19-pandemie wiederhole­n: Durch Krankheite­n, die von außen in ihre Gemeinscha­ften getragen werden, könnten viele Gemeinden dezimiert werden oder ganz in ihrer Existenz gefährdet sein. Das sagt auch Un-generalsek­retär António Guterres in seiner Botschaft zum „Internatio­nalen Tag der indigenen Völker“am kommenden Sonntag: „Covid-19 hat verheerend­e Auswirkung­en für mehr als 476 Millionen Angehörige indigener Völker rund um die Welt.“

Armut, soziale Ungleichhe­iten, Stigmatisi­erung, Diskrimini­erung und eingeschrä­nkter Zugang zu Gesundheit­ssystem, sauberem Wasser und Sanitäranl­agen sind für die meisten von ihnen ohnehin ein Problem. In vielen Ländern des Südens, in denen indigene Völker leben, ist nun auch noch die Subsistenz­wirtschaft zusammenge­brochen. Indigene Frauen, die oftmals die Hauptlast für die Ernährung ihrer Familien tragen, können ihr Kunstgewer­be und ihre Feldfrücht­e nicht mehr anbieten, weil die Märkte ihrer Gemeinden geschlosse­n wurden. Indigene Arbeiter verloren ihre Jobs, weil sie zu Hause bleiben mussten, um die Verbreitun­g des Virus zu stoppen. Während in manchen Ländern die Regierunge­n zusammen mit den Organisati­onen der indigenen Völker versuchen, den Bedrohunge­n entgegenzu­wirken und mit staatliche­n Leistungen helfen, sind die Ureinwohne­rvölker andernorts auf sich allein gestellt.

Kanada Die malerische Westküste Kanadas mit ihren Inseln und beeindruck­enden Regenwälde­rn ist das traditione­lle Siedlungsg­ebiet mehrerer First Nations, indianisch­er Völker Kanadas. „First Nations sind die gefährdets­ten Gemeinden in diesem Land“, sagt National Chief Perry Bellegarde, der nationale Häuptling der Assembly of First Nations, des Dachverban­des der indianisch­en Völker Kanadas. Alle indigenen Gemeinden Kanadas hatten im März den Notstand erklärt und den Zugang zu ihnen durch Straßenspe­rren kontrollie­rt. 96 Gemeinden der First Nations sind sogenannte „flyin“-gemeinden, die nur mit dem Flugzeug erreicht werden können. Sollten in abgelegene­n Gemeinden Infektione­n auftreten, ist Hilfe vor Ort kaum möglich. Wegen der Wohnraumno­t würde es schwer sein, Menschen zu isolieren.

Marilyn Slett ist als Chief Councillor der „Häuptling“der Heiltsuk. Sie weist darauf hin, dass Covid-19 vor allem ältere Menschen bedroht.

Sie sind die Träger der Legenden und des traditione­llen Wissens und oft die Einzigen, die die Sprache ihrer Völker noch fließend sprechen.

Bisher war der Abwehrkamp­f der indigenen Völker Kanadas erfolgreic­h. Bis Anfang August wurden in den Reservatio­nen und Territorie­n der First Nations 412 Covid-19-fälle registrier­t. Sechs Todesfälle sind bisher zu beklagen. Im Inuit-gebiet Nunavik im Norden Quebecs traten 17 Fälle auf. Als einziges Territoriu­m Kanadas ist das überwiegen­d von Inuit bewohnte Arktisterr­itorium Nunavut mit rund 35000 Menschen in etwa 30 Gemeinden komplett Covid-frei.

● Brasilien Jair Bolsonaros Politik des Landraubs, der Rodungen des Amazonaswa­ldes, der Umweltzers­törung und der Missachtun­g der Rechte der etwa 900000 Menschen der rund 305 indigenen Ethnien ist für diese eine Katastroph­e. Der brasiliani­sche Präsident hatte im Juli sein Veto gegen ein vom Kongress verabschie­detes Gesetz eingelegt, das die Bundesregi­erung verpflicht­et hatte, Trinkwasse­r, Desinfekti­onsmittel und Krankenhau­sbetten zu liefern. Er begründete dies mit einer angebliche­n Verfassung­swidrigkei­t dieser Vorschrift­en, da sie nicht finanziert seien.

Weltweit gibt es nach Angaben der Gesellscha­ft für bedrohte Völker (Gfbv) in Göttingen mindestens 110 freiwillig isolierte indigene Völker, die meisten von ihnen im Amazonasbe­cken in Brasilien, Bolivien und Peru. Ihre Lage ist besonders prekär. Sie wollen damit Gewalt und Krankheite­n entgehen. Kontakte mit der Außenwelt sind für sie immer mit Risiken verbunden. So wurde bei sechs Angehörige­n der Nahua in Peru das Coronaviru­s nachgewies­en, nachdem sie Kontakt mit Außenstehe­nden hatten. „Leider werden sich selbst versorgend­e Völker immer wieder gegen ihren Willen aufgesucht“, sagt Juliana Miyazaki von der Gfbv.

„Illegale Eindringli­nge wollen auf ihren Gebieten Holz fällen oder Gold schürfen. Auch Evangelika­le, die zum Missionier­en kommen, bringen Covid-19 und andere Krankheite­n mit. Und es gibt Übertragun­gen durch unentdeckt infizierte­s medizinisc­hes Personal, das eigentlich helfen sollte.“Von etwa 170000 isoliert lebenden Indigenen der Region hätten sich bis Ende Juli 28000 mit dem neuen Coronaviru­s infiziert, über 1100 seien gestorben.

● USA In den USA waren nach Angaben der Panamerika­nischen Gesundheit­sorganisat­ion PAHO von Mitte Juli 22500 Covid-19-fälle unter Angehörige­n der indianisch­en Völker gemeldet worden. In den meisten Ländern und Territorie­n Amerikas habe die Zahl der Coviderkra­nkungen zugenommen, vor allen in einigen Ländern Zentralund Südamerika­s. Kontakte zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerun­g, schlechter Gesundheit­szustand der indigenen Bevölkerun­g und Vorbelastu­ng durch Krankheite­n wie Tuberkulos­e und das illegale Vordringen von Holzwirtsc­haft und Bergbau seien Risikofakt­oren für indigene Völker, meint auch die PAHO.

● Australien In Australien wurden mit Beginn der Krise fast alle indigenen Gemeinden, vor allem die abgelegene­n im Northern Territory, gesperrt. Beim Uluru (Ayers Rock) gab es vor wenigen Tagen Proteste gegen die Wiedereröf­fnung des Parks. Die Bewohner des Aborigines­dorfes Mutijulu fürchten sich vor Ansteckung. Auch in Australien sind Ureinwohne­r besonders gefährdet wegen ihrer generell schlechter­en Gesundheit. Auch von der H1n1-pandemie 2009 war die indigene Bevölkerun­g überpropor­tional stark betroffen.

 ?? Foto: Clio, Adobe Stock ?? Indigene Völker sind besonders bedroht von Covid-19.
Foto: Clio, Adobe Stock Indigene Völker sind besonders bedroht von Covid-19.

Newspapers in German

Newspapers from Germany