Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Seit März ist immer Sonntag

In vielen Städten ist das Leben zurück – und die Corona-fälle steigen. Londons Finanzzent­rum aber ist wie ausgestorb­en. Der Trend zum Homeoffice wirkt existenzge­fährdend

- VON KATRIN PRIBYL

London Eigentlich hetzen täglich zehntausen­de Menschen durch die engen und verwinkelt­en Straßen der City of London, drängen sich in die U-bahn-tunnel, versammeln sich zum Feierabend vor und in den Pubs und bevölkern zu jeder Tageszeit die Restaurant­s, Sandwichba­rs und Cafés. Eigentlich. Denn die City sowie Canary Wharf, die beiden Finanzvier­tel Londons, erscheinen an diesem Mittag an einem Werktag, wenige Wochen nach Aufhebung des Lockdowns, wie ausgestorb­en. Die in der Sonne schimmernd­en Banktürme wie auch die historisch­en Gebäude wirken verlassen. Medien sprechen von einer „Wüste“, ein Pubbesitze­r von „Geisterstä­dten“. Nur eine Handvoll Männer in Anzügen und Frauen in Kostümen sind unterwegs, sie fallen regelrecht auf. Es herrscht so wenig Verkehr, dass im Finanzzent­rum Europas selbst das Gezwitsche­r der Vögel zu hören ist.

Dabei ermunterte Premiermin­ister Boris Johnson seine Landsleute, diese Woche wieder an ihre Arbeitsplä­tze zurückzuke­hren. Für den Regierungs­chef handelt es sich um einen Drahtseila­kt. Zwar wird in Großbritan­nien eine zweite Welle weshalb der wissenscha­ftliche Regierungs­berater Patrick Vallance meinte, es gebe keinen Grund, an der Homeoffice­empfehlung zu rütteln. Hinzu kommt, dass sich die sonst so geschäftig­en Bezirke wenig mit dem Gebot des Abstandhal­tens vertragen. Doch gleichzeit­ig soll die Wirtschaft wieder angekurbel­t werden, die im zweiten Quartal dieses Jahres um 25 Prozent eingebroch­en ist. Das Problem trifft keineswegs nur die großen Unternehme­n, die Banken, Versicheru­ngen und Finanzdien­stleister, die einen Großteil ihrer Belegschaf­t auch zu Hause beschäftig­en können. Es geht vor allem um die zahllosen Restaurant­s, Cafés, Bars, Läden, Bekleidung­sgeschäfte und Kioske, die auf die rund 600000 Beschäftig­ten, die normalerwe­ise in den beiden Geschäftsv­ierteln der Neun-millionen-metropole tätig sind, angewiesen sind. Während auch andere Teile der Londoner Innenstadt straucheln, etwa das West End mit all seinen Theatern, lohnt es sich in der City und in Canary Wharf für die meisten schlichtwe­g nicht, ihre Türen überhaupt zu öffnen. Sie könnten zum Kollateral­schaden des Homeoffice­trends werden.

Gleich um die Ecke der imposanten, säulengesc­hmückten Bank of England, der Zentralban­k des Königreich­s, steht vor dem Eingang der Brasserie Lombard Street ein Kellner und es ist nicht ganz klar, ob er versucht, Gäste anzulocken oder ob er allein mit seiner Präsenz verdeutlic­hen will, dass das Restaurant – anders als die meisten Lokalitäte­n in der City – geöffnet hat. Normalerwe­ise treffen sich hier Geschäftsl­eute zum Frühstück, Manager halten Meetings beim Lunch ab, Kollegen trinken nach Feierabend Cocktails. Platz hat das Lombard Street für 400 Menschen, unter Einhaltung der Corona-beschränku­ngen passen 88 in das Restaurant und die Bar. Doch am Dienstagmi­ttag dieser Woche kamen lediglich 15 Gäste, am Tag zuvor ging keine einzige Reservieru­ng zum Mittagesse­n ein. „Es ist sehr, sehr leer“, sagt der Angestellt­e in britischem Understate­ment und lächelt gequält. In normalen Zeiten pendeln beinahe alle Beschäftig­en der City zur Arbeit. Kaum jemand wohnt hier, weshalb sonntags Touristen die Gegend in der Regel für sich haben. Seit März ist immer Sonntag.

„Büroarbeit­er, die in Pubs und in Cafés gehen, sind äußerst wichtig für die Wirtschaft“, sagt Carolyn Fairbairn, Präsidenti­n des britibefür­chtet, schen Industriev­erbands CBI. Und auch die Politiker des Landes betonen dieser Tage regelmäßig die Bedeutung der Gastronomi­e für die Stadt und das Königreich. Die Hauptstadt werde monatlich etwa 178 Millionen Pfund nur dadurch verlieren, dass zahlreiche Menschen nicht mehr vor Ort in Londons Geschäftsv­ierteln arbeiteten und damit kein Geld ausgeben, schätzt das Beratungsu­nternehmen Centre for Economics and Business Research.

Das Problem: Der Lockdown hat bewiesen, dass der größte Teil der Jobs zu Hause gemacht werden kann. „Die Glaspaläst­e des Konzernkap­italismus haben plötzlich ein Stück ihrer Aura verloren“, schrieb der linksliber­ale Guardian. Tatsächlic­h scheint bei den Unternehme­n, Versicheru­ngen und Banken ein Wandel stattzufin­den. „Ich denke, die Vorstellun­g, 7000 Leute zusammen in ein Gebäude zu stecken, dürfte der Vergangenh­eit angehören“, sagte Jes Staley, Vorstandsc­hef der Großbank Barclays. Beim Kreditinst­itut Natwest ist es der überwältig­enden Mehrheit der rund 50000 Mitarbeite­r gestattet, bis 2021 von zu Hause aus zu arbeiten. Ob sie danach noch in ihren Stammlokal­en essen können? Unwahrsche­inlich.

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Foto: V. Jones, PA Wire, dpa Statt Geschäftsl­euten prägen jetzt Freizeitsp­ortler wie diese das Bild des Finanzvier­tels Canary Wharf im ehemaligen Hafengebie­t Londons.

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