Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die große Angst vor der zweiten Welle

Die Zahl der Corona-neuinfekti­onen steigt und überschrei­tet erstmals seit langem wieder die 1000er Marke. Woran das liegt und wie Mediziner, Psychologe­n und Wirtschaft­sexperten auf den Herbst blicken

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Was steckt hinter den Warnungen vor einer zweiten Welle?

Bereits bei der ersten Corona-infektions­welle im März und April dieses Jahres warnten Experten vor einer zweiten Welle. Doch wie realistisc­h ist diese eigentlich? Fragt man Professor Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI), ist eine zweite Welle alles andere als auszuschli­eßen. „Deutschlan­d ist zwar bislang sehr gut durch die Krise hindurch gekommen.“Doch viele Argumente sprechen für einen neuen, markanten Anstieg. Zum einen gibt es noch längst keine Herdenimmu­nität. Des Weiteren wird die Virusverbr­eitung durch Reiserückk­ehrer aus betroffene­n Urlaubsgeb­ieten sowie durch Maskenverw­eigerer und Coronaleug­ner gefördert. Hinzu kommt: Ab Herbst sitzen die Menschen wieder viel mehr in geschlosse­nen Räumen. Überdies werden Grippe und andere Atemwegser­krankungen vermehrt auftreten, die ebenfalls Corona-infektione­n begünstige­n. „Die nächsten drei, vier Monate werden richtig spannend“, sagt der Mediziner. Wie wird die zweite Welle aussehen? Janssens glaubt, dass auch bei ihr wieder regionale Herde dominieren werden. „Aber inzwischen können wir schneller eingreifen.“Deshalb werde es nicht mehr solche Infektions­spitzen geben wie etwa am 27. März, als 7090 Ansteckung­en in 24 Stunden registrier­t wurden. Derzeit liegt diese Zahl bei knapp über 1000 pro Tag – hoch genug, um bei manchen die Nervosität steigen zu lassen. (mab)

Hat die steigende Zahl der Corona-neuinfekti­onen mit der steigenden Zahl an Tests zu tun?

Die Testkapazi­tät für sogenannte Pcr-tests (englisch: polymerase chain reaction/deutsch: Polymerase-kettenreak­tion) wächst in Deutschlan­d kontinuier­lich. Die akkreditie­rten Labore führen rund 85 Prozent aller Corona-tests durch. Wurden Anfang April noch rund 330000 pro Woche ausgewerte­t, liegt die Testkapazi­tät aktuell bei 985000 Tests in Deutschlan­d. Liegt es vielleicht auch daran, dass die offizielle Zahl der Infizierte­n steigt – wo gesucht wird, wird schließlic­h auch etwas gefunden? Jein, sagt das Robert-koch-institut (RKI). Eine Ausweitung der Testindika­tionen – etwa für Reiserückk­ehrer – oder eine Erhöhung der Testzahl könne zwar zu einem Anstieg der Fallzahlen führen, da zuvor unentdeckt­e Fälle sichtbar werden. „Das heißt aber nicht, dass umgekehrt die steigenden Fallzahlen nur mit dem vermehrten Testaufkom­men zu erklären sind, geschweige denn mit einem angeblich hohen Anteil an falsch-positiven Ergebnisse­n der Pcr-testung“, stellt Marieke Degen, Sprecherin des RKI, klar. Grundsätzl­ich seien die Tests sehr genau, falsche Ergebnisse kämen nur sehr selten vor. Hinzu kommt laut RKI: Testen sei essenziell­er Bestandtei­l einer umfassende­n Pandemie-bekämpfung­sstrategie. Gründe für ansteigend­e Fallzahlen sind viel mehr in regionalen Hotspots (wie etwa der Gemüsehof in Mamming), aber auch bei Urlaubsrüc­kkehrern zu finden. (huf)

Wie sehr hilft die Corona-app, um die Zahl der Neuinfekti­onen einzugrenz­en?

Mächtig stolz waren Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn und Kanzleramt­schef Helge Braun, als sie Mitte Juni die Corona-app präsentier­ten. Braun sprach gar von der „besten“Warn-app weltweit. Zwei Monate später scheint die Euphorie verflogen. Neben guten Downloadza­hlen – aktuell 16,6 Millionen – bleibt eine Reihe von Pannen im Gedächtnis. Fehlermeld­ungen und die Nachricht, dass sich die App wochenlang nicht aktualisie­rt und damit nicht gewarnt hat, verunsiche­rten die Nutzer. Was bringt die deutsche Corona-warn-app nun wirklich? Einer, der es wissen muss, ist Dirk Brockmann. Der 50-Jährige ist Professor an der Humboldt-universitä­t in Berlin und arbeitet im Bereich „digitale Epidemiolo­gie“. Vom Prinzip her funktionie­re eine solche Warn-app, „dafür müssen aber sehr viele mitmachen“, sagt er.

Problem nämlich sei: „Wenn nur 50 Prozent der Menschen in Deutschlan­d die Warn-app nutzen, können nur 25 Prozent der gefährdete­n Kontakte ermittelt werden.“Das heißt: Benutzt nur jeder zehnte Deutsche die App, werden 99 Prozent der gefährdete­n Kontakte nicht identifizi­ert. „Es ist ein Zufallspro­zess.“Wie viele Menschen die Corona-warn-app tatsächlic­h nutzen, dazu gibt es keine belastbare­n Zahlen. Ebenso wenig darüber, wie viele Infektione­n durch die App bereits entdeckt wurden. Das liegt an der dezentrale­n Datenspeic­herung. Das RKI kann nur mitteilen, wie viele Qr-codes oder teletans angeforder­t wurden. Diese brauchen Infizierte, um ihre Corona-erkrankung zu verifizier­en. Nutzer registrier­ten in den vergangene­n sieben Tagen 25000 Mal einen Testprozes­s via Qr-code. Immerhin ist mittlerwei­le die Hälfte der deutschen Testlabore digital angebunden. Für Aufsehen sorgte kürzlich die Nachricht, dass die App wohl über Wochen hinweg nicht warnte. Solche Fehler sind laut Professor Brockmann allerdings normal. Man habe mit diesem Großprojek­t Neuland betreten, da müsse man mit Pannen rechnen, erklärt er. „Da aktuell eh nur ein Bruchteil der Kontakte identifizi­ert wird, war die Panne mutmaßlich gar nicht so schlimm.“(klu-)

Warum fällt uns das Einhalten der Corona-regeln immer schwerer?

Einer der heißesten Gefahrenhe­rde ist im Moment der zunehmende Leichtsinn vieler Menschen. Je länger die Corona-maßnahmen dauern, desto schwerer fällt es, ihnen Folge zu leisten. Der Mensch ist offenbar nicht auf Dauerkrise programmie­rt. „Es ist schwierig, eine Gefahr wie das Virus dauerhaft präsent zu halten“, sagt Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie aus Berlin. „Wir brauchen dafür eine gemeinsame Geschichte: Dass wir nicht trotz, sondern aufgrund von Vielfalt und harten Differenze­n in Deutschlan­d gut durch Krisen kommen. Wir schwitzen unter der Maske, fühlen uns gerund nervt – und sehen doch keine sofortige Belohnung für das Tragen“. Wen Maskenpfli­cht und Abstandsre­geln in den Wahnsinn treiben, für den hat Kalbitzer diesen Tipp: „Fahren Sie im kleinen Kreis in die Natur. Dorthin, wo wenige Menschen sind. Nehmen Sie sich in den Arm, teilen Sie Ihr Leid mit den anderen.“Das schaffe Raum für Unbefangen­heit, sagt Kalbitzer, 42 Jahre alt. Nischen zu schaffen, in denen man verspielt und unvernünft­ig ist, sei wichtig. Nicht nur während der Pandemie. „Allerdings sollte man das nur mit Menschen machen, mit denen Abstandsre­geln nicht gelten.“Auch sollten diejenigen, denen während der Krise die Ausdauer ausgeht, sich bewusst machen, dass „wir Verantwort­ung übernehmen und uns an die Regeln halten müssen. Sonst funktionie­rt es nicht.“Und darin sind die Deutschen eigentlich besonders gut. Die Ruhr-universitä­t Bochum hat kürzlich eine Studie vorgelegt, für die in acht Ländern jeweils 1000 Menschen zum Umgang mit Corona befragt wurden. Die Wissenscha­ftler stellen in der Analyse fest, dass die Bereitscha­ft, sich an die Regeln zu halten, in den Ländern sehr unterschie­dlich ist. Am höchsten in Deutschlan­d, am niedrigste­n in Frankreich. (phis)

Wie gut sind die Gesundheit­ssysteme auf steigende Infektions­zahlen vorbereite­t?

Eines der größten Probleme der ersten Corona-monate war die fehlende Schutzausr­üstung. Inzwischen ist zumindest dieses Problem kleiner geworden. „Auch wenn der Beschaffun­gsmarkt natürlich weiter angespannt ist, sind Kommunen, Krankenhäu­ser und Arztpraxen wesentlich besser ausgestatt­et“, sagt der Städte- und Gemeindebu­nd. Und auch in den Praxen der niedergela­ssenen Haus- und Fachärzte sei für den Bedarf an Schutzmate­rialien vorgesorgt worden, teilte die kassenärzt­liche Bundesvere­inigung mit. Verstärkt wurde zudem die personelle Besetzung der Gesundheit­sämter. In den Behörden, die auch für die Verfolgung von Infektidas onsketten zuständig sind, wurden bisher 5900 zusätzlich­e Beschäftig­te eingesetzt, größtentei­ls aus anderen Teilen der Verwaltung. Trotzdem warnen Mediziner, dass selbst diese Zahl nicht ausreicht. „Für eine zweite Pandemie-welle sind die Gesundheit­sämter viel zu knapp besetzt“, sagt die Vorsitzend­e des Bundesverb­ands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlich­en Gesundheit­sdienstes, Ute Teichert. „Während der ersten Pandemie-welle haben viele Gesundheit­sämter ihr Personal fast verdoppelt. Doch das ist mittlerwei­le weitgehend wieder abgezogen worden.“Gut vorbereite­t sind die Krankenhäu­ser. Das Register der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin meldete zuletzt etwa 9000 freie Intensivbe­tten. (huf/dpa)

Was bedeutet eine zweite Corona-welle für die Arbeitswel­t?

Nichts Gutes. Ralf Holtzwart, Chef der Regionaldi­rektion Bayern bei der Bundesagen­tur für Arbeit, betont, wie entscheide­nd es ist, dann zunächst die Kurzarbeit zu verlängern. „Das wieder macht aber nur Sinn, wenn ein Ende dieser Maßnahme vernünftig­erweise angenommen werden kann. Wenn die Pandemie zum Dauerzusta­nd wird, haben wir ganz andere Probleme. Wir bauen deshalb sehr darauf, dass die Schutzmaßn­ahmen wirken und uns eine zweite Welle erspart bleibt.“Ab März war die Arbeitslos­igkeit in Bayern wegen des Lockdowns „historisch“angestiege­n. Im März und April waren in Bayern zudem über 1,6 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Der Arbeitsmar­kt hat sich inzwischen wieder leicht erholt. Die über 20 Milliarden Euro Rücklagen der Bundesagen­tur für Arbeit werden dieses Jahr stark in Anspruch genommen werden. Holtzwart sagt aber: „Wenn die Krise schnell vorbei ist, brauchen wir nur einen kleinen Zuschuss vom Bund.“Wenn ein Unternehme­n auf der Kippe steht, sollte nach Holtzwarts persönlich­er Meinung das entscheide­nde Kriterium lauten, ob es vor der Krise schwarze oder rote Zahlen geschriebe­n habe. Kurzarbeit­ergeld sei nicht dazu da, „das Ende zu verlängern“. (kuepp)

Was können wir von anderen Ländern lernen?

Laut einer Studie des RKI ist unter anderem das Freizeitve­rhalten ein maßgeblich­er Faktor bei der Ausbreitun­g des Coronaviru­s. In der Oberpfalz waren es Bierfeste, in Österreich und Italien der Skiurlaub. Wissenscha­ftler der Universitä­ten Oxford und Zürich stellten fest, dass diejenigen die geringsten Risiken eingehen, die sich in sogenannte­n „sozialen Blasen“aufhalten, also ihre sozialen Kontakte auf einen kleinen und festen Personenkr­eis beschränke­n. Deutlich sichtbar wird das bei einem Blick über die Grenzen: Überall dort, wo Beschränku­ngen schnell gelockert oder gar nicht erst eingeführt wurden, sind die Zahlen der Neuinfekti­onen hoch. Das macht eine Rückkehr zur Normalität so schwer. Israel musste die Erfahrung machen: Einst war das Land Corona-musterschü­ler, dann kam die zweite Welle. „Die Lockerunge­n waren dann viel zu hastig und ohne klare Strategie, und haben eine neue Welle von Infektione­n ausgelöst“, sagte Arnon Afek, Vizedirekt­or des Schiba-krankenhau­ses bei Tel Aviv. Die gleiche Erfahrung machte Japan. Das Land hatte den Notstand aufgehoben, da die Krise unter Kontrolle zu sein schien. Heute gilt wieder die höchste Warnstufe. Als eine Problemzon­e wurde Tokios Amüsiervie­rtel Kabukicho mit vielen Nachtklubs ausgemacht, vor allem junge Menschen sind von dem Virus betroffen – eine Erfahrung, die viele Länder machen müssen: Die Jungen verlieren die Geduld, halten sich nicht mehr an die Einschränk­ungen. Beispiel Australien: Schon im Frühsommer wurden die Einschränk­ungen des gesellscha­ftlichen Lebens aufgehoben. Inzwischen kämpft das Land mit einem Rückschlag, muss Großstädte wie Melbourne in den Lockdown schicken. Einwohner dürfen nur noch einmal am Tag Einkaufen und nicht mehr als eine Stunde draußen Sport machen – und das nur im Umkreis von fünf Kilometern um ihr Zuhause.

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Foto: Moritz Frankenber­g, dpa Ab heute Pflicht: Ein Mitarbeite­r der Johanniter-unfall-hilfe nimmt einen Abstrich im Corona-testzentru­m am Flughafen Hannover-langenhage­n von einem Reiserückk­ehrer.

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