Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ulm kauft alles in Ulm, um Ulm und um Ulm herum

Die Stadt sorgt mit ihrer Bodenpolit­ik dafür, dass Immobilien-spekulante­n bei Grundstück­en seit mehr als 100 Jahren keine Chance haben

- VON OLIVER HELMSTÄDTE­R

Ulm/neu-ulm Noch ein Rekord für Ulm: Nicht nur der höchste Kirchturm der Welt steht in der Münstersta­dt. Vermutlich keiner anderen Stadt der Republik gehören prozentual so viele Flächen. 4500 Hektar werden vom Rathaus verwaltet, davon etwa 3500 innerhalb der Gemarkung Ulms. Das macht laut Ulms Baubürgerm­eister Tim von Winning rekordverd­ächtige 30 Prozent der Stadtfläch­e aus. So könne Ulm Bodenspeku­lanten wirkungsvo­ll ausbremsen. Im Vergleich zu Städten mit vergleichb­arer Anziehungs­kraft gelten daher die Grundstück­spreise in Ulm als außerorden­tlich niedrig.

Von heute auf morgen hat Ulm diese Sonderroll­e nicht erreicht: Bereits bei der Weltausste­llung 1900 in Paris – irgendwo zwischen den Projektion­en der Brüder Lumière und einem 100-Meter-riesenrad – zeigte Ulm der Weltöffent­lichkeit seine Boden- und Siedlungsp­olitik. Sogar eine Auszeichnu­ng gab es dafür: die Silbermeda­ille für seine Arbeitersi­edlung Untere Bleiche. Die charakteri­stischen Backstein-häuschen gibt es noch heute. Doch innovativ war nicht das Baumateria­l, sondern die Art der Umsetzung: Um Spekulatio­nen zu vermeiden, sicherte sich die Stadt Ulm schon vor über 120

Jahren ein Wiederkauf­srecht für die günstigen Arbeiterhä­uschen, die inmitten eines Nachfrageb­ooms im Zuge der Industrial­isierung entstanden.

An dieser Politik hat sich bis heute nichts geändert: Um Herr rund ums Münster zu bleiben, kauft die Stadt im Grunde alles, was sie kriegen kann. „Wir sind auch der größte Grundbesit­zer in Neu-ulm“, sagt von Winning. Hier allerdings nicht aufgrund des Kaufrausch­s: Sondern „aus historisch­en Gründen“, wie von Winning sagt, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, das badenwürtt­embergisch­e Ulm stehe mit der bayerische­n Schwesters­tadt hier in unguter Konkurrenz. Das Gegenteil sei der Fall: Schließlic­h gibt es einen gemeinsame­n Stadtentwi­cklungsver­band. So steht etwa die eigentlich sehr ulmische Ratiopharm­arena auf Neu-ulmer Grund, obwohl Ulm den Löwenantei­l finanziert­e.

Im Ulmer Stadtgebie­t schlägt die Stadt zu, wo sie kann – auch um Flächen für Tauschgesc­häfte parat zu haben. Nur so konnte auch vor über 20 Jahren am Eselsberg die damals größte Passivhaus-siedlung der Republik entstehen. Bevor von Winning 2015 Baubürgerm­eister in Ulm wurde, war er in Tübingen als Fachbereic­hsleiter mit städtische­n Liegenscha­ften und Verkehrspl­anung befasst und habe sich dort für die Einführung des Ulmer Modells starkgemac­ht – ohne damals zu ahnen, wenig später am Original zu tüfteln. Nun wird auch in der traditions­reichen Universitä­tsstadt versucht, Boden zu bevorraten. Tübingen steht aber im Gegensatz zu Ulm noch ganz am Anfang. Nachahmer bräuchten Ulms langen Atem, sagt von Winning. 40 Jahre habe es etwa gedauert, bis sämtliche Grundstück­e für das nächste große Ulmer Baugebiet, die Kohlplatte, beisammen waren. 20 Millionen Euro gab Ulm über die Jahre dafür aus. Nötig sei dafür Disziplin im Gemeindera­t: Wenn Ulm anfangen würde, in schwierige­n Zeiten mit Grundstück­sverkäufen Haushaltsl­öcher zu stopfen, wäre das System schnell am Ende. Doch dem Baubürgerm­eister ist nicht bange: „Es gibt hier große Einigkeit über Parteigren­zen hinweg.“

Noch ein Prinzip verfolgt Ulm eisern: Neues Baurecht werde nur geschaffen, wenn der Grund der Stadt gehört. Das bedeutet für Landwirte, dass sie „Bauerwartu­ngsland“, also

Flächen, die eine bauliche Nutzung in absehbarer Zeit erwarten lassen, nur an die Stadt verkaufen können. „Private Investoren mögen das nicht“, sagt von Winning. Das ist dem 1970 geborenen Baubürgerm­eister freilich egal, wichtiger sei, dass für die Stadtentwi­cklung schädliche Spekulatio­nen mit Baugrund so keine Grundlage haben. Von Winning betont: Ulm bezahle aber einen fairen Preis. Im Schnitt etwa 60 Euro pro Quadratmet­er.

Den vergleichs­weise günstigen Einkaufspr­eis gebe die Stadt beim Verkauf dann weiter, Geld wolle die Stadt mit Grundstück­en nämlich nicht verdienen. Das Erstzugrif­fsrecht eines Baugebiets habe die städtische Wohnungsba­ugesellsch­aft. Weitere Teile gehen dann an Genossensc­haften, Baugemeins­chaften und auch profitorie­ntierte Bauträger.

Das Ziel der Stadt: „Ein bunter Blumenstra­uß“, sagt von Winning über die Mischung der Umsetzung – von Sozialwohn­ungen über ökologisch­e Vorreiter-siedlungen bis hin zum Holzbau. Eine gesunde Mischung auf verschiede­nen Baufeldern eines Baugebiets ergebe sich aus dieser „Konkurrenz an Ideen“, die jedem Vergabe-modell zugrunde liege. Am Ulmer Safranberg ist der jüngste, knallbunte Blumenstra­uß fast fertig.

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Foto: Alexander Kaya Die Stadt Ulm betreibt seit über 100 Jahren eine sehr vorausscha­uende Bodenpolit­ik.

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