Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wieso brauchen wir Konsum?
Das Wirtschaftssystem zu durchblicken ist gar nicht so einfach. Wir haben uns genauer angeschaut, wie Konsumklimaindex, Inflationsrate, BIP und Co zusammenhängen
Augsburg Der Konsum soll uns aus der Krise helfen, die Menschen wieder zum Kaufen animiert werden. Deutschland senkt dafür die Mehrwertsteuer für den Rest des Jahres. In Großbritannien übernimmt die Regierung an bestimmten Tagen die Hälfte der Restaurant- oder Pubrechnung. Und Japans Bürger erhalten eine Direktzahlung in Höhe von 100 000 Yen (circa 800 Euro). Mit all diesen Maßnahmen wollen Regierungen rund um den Globus die Konjunktur stützen. Denn mit Beginn der Corona-krise und sämtlicher Lockdown-maßnahmen ist die Wirtschaft in einen Tiefschlaf gefallen, aus dem sie wieder aufgeweckt werden muss. Als Erklärung heißt es, „der Konsumklimaindex ist eingebrochen“, „die Inflationsrate ist gesunken“oder „das Bruttoinlandsprodukt ist geschrumpft“. Aber was heißt das eigentlich? Wir haben die wichtigsten Begriffe unter die Lupe genommen.
Monat für Monat ermitteln die Experten der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GFK) den Konsumklimaindex. Er gibt an, wie positiv oder negativ die Verbraucher ihre finanzielle Lage bewerten, ob sie bereit sind, in naher Zukunft größere Anschaffungen zu tätigen, wie sorglos sie ihr Geld ausgeben. Bricht der Index ein, sieht es schlecht aus für die deutsche Konjunktur.
Die GFK berechnet den Konsumklimaindex aus mehreren Einzelfaktoren, für die sie allmonatlich 2000 repräsentativ ausgewählte Personen ab 14 Jahren befragt. Einer dieser Einzelfaktoren – die Anschaffungsneigung – spiegelt die Lust der Deutschen, Geld für privaten Konsum auszugeben, am deutlichsten wider. In den vergangenen zehn Jahren ist diese Kurve immer weiter gestiegen. Im Februar 2020 war die Anschaffungsneigung der Deutschen mehr als dreimal so hoch wie noch im Februar 2010. Doch dann kam Corona – und die Kurve stürzte steil nach unten ab, unterschritt sogar zum ersten Mal seit langer Zeit die Nulllinie.
Doch was passiert genau, wenn wir alle plötzlich aufhören, Dinge zu kaufen? Nicht nur die Verbraucher würden Geld sparen. Als Reaktion auf den spontanen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität und die drastisch verminderten Aussichten für den zukünftigen Verkauf ihrer Produkte würden die Unternehmen ebenfalls ihre Investitionen kürzen.
An diesem Punkt tritt ein Phänoein, das Wirtschaftswissenschaftler als Sparparadoxon bezeichnen: Einerseits wird uns von klein auf vermittelt, dass wir immer einen Notgroschen auf der hohen Kante haben sollten. Gleichzeitig heißt es, wir dürfen die Wirtschaft nicht kaputtsparen. Wie geht das zusammen? Sparen mag für den Einzelnen sinnvoll sein. Wenn aber alle Akteure einer Volkswirtschaft um die Wette sparen, dann fehlt es an Nachfrage und allen geht es schlechter. Der Ökonom John Maynard Keynes hat einen Vergleich herangezogen: Wenn eine einzelne Person in einem voll besetzten Kino aufsteht, kann sie besser sehen. Machen das alle Besucher nach, sieht keiner besser, obwohl jetzt alle stehen müssen.
Wenn plötzlich alle Menschen mehr sparen – beispielsweise, weil sich die Konjunktur im Abschwung befindet und die Verbraucher erwarten, dass sich ihre finanzielle Lage verschlechtern wird –, droht eine Deflation. Dabei sinkt das allgemeine Preisniveau langfristig; das heißt, dass vieles billiger wird. Was für Verbraucher erst einmal hervorragend klingt, kann für die Wirtschaft ernste Folgen haben und eine Abwärtsspirale in Gang setzen. Schieben Käufer ihre Investitionen immer weiter auf, beispielsweise weil sie davon ausgehen, dass der neue Kühlschrank im nächsten Monat noch günstiger sein wird, nimmt die Menge der angebotenen Waren immer weiter zu. Dadurch sinken die Preise noch weiter. Das wiederum hat zur Folge, dass Unternehmen nicht mehr investieren, weil ihre Investitionen keinen Gewinn mehr versprechen. Stellen werden gestrichen, Firmeninsolvenzen steigen, ebenso wie die
Arbeitslosigkeit. Banken müssen verstärkt Kredite abschreiben. Zur Verringerung des Ausfallrisikos werden kaum weitere Kredite vergeben.
Eine Deflation kommt deutlich seltener vor als eine Inflation – letztere ist hierzulande normal. Dass Inflation herrscht, können wir relativ einfach beim Blick in unsere Geldbeutel feststellen. Nämlich dann, wenn wir für Waren und Dienstleistungen mehr ausgeben müssen als zuvor. Menschen mit geringem Einkommen spüren eine Inflation besonders deutlich. Denn gerade die Preise für Lebensmittel, Strom, Heizöl oder Sprit – also Güter, die wir alle regelmäßig brauchen – steigen vergleichsweise stark an. Auch Menschen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind, trifft die Inflation stärker. Denn Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Rente und Co werden nicht zeitnah im gleichen Maß erhöht, was die Geldentwertung abfedern würde. Auch Sparer verlieren einen Teil ihres Vermögens, wenn die Zinsen für die Geldanlage unterhalb der Inflationsrate liegen. Schuldnern hingegen kommt eine Inflation entgegen. Denn wenn das Preisniveau steigt, verlieren Schulden relativ an Wert.
Im Juli ist die Inflationsrate zum ersten Mal seit vier Jahren negativ geworden. Wie das Statistische Bundesamt meldete, sanken die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat um 0,1 Prozent. Das bedeutet aber nicht, dass Deutschland nun in eine Deflation rutscht. Grund für die sinkende Inflationsrate ist nach Ansicht des Bundesamtes unter anderem die seit 1. Juli geltende Mehrwertsteuersenkung, die Händler und Dienstleister zu einem beträchtlichen Teil an Kunden weitermen gegeben haben. Ökonomen erwarten, dass die Inflationsrate im August wegen steigender Ölpreise wieder in den positiven Bereich zurückkehrt.
Eine weitere Kennzahl – eine zentrale Größe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen – ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es misst die wirtschaftlichen Leistungen einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum. Was sperrig klingt, ist einfach erklärt: Es errechnet sich aus allen Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb der Landesgrenzen erbracht wurden. Für Deutschland ist das alles, was von deutschen und nichtdeutschen Personen, von Unternehmen und vom Staat hergestellt oder geleistet wird.
Seit Jahren steigt das Bruttoinlandsprodukt – mit einer kleinen Delle im Jahr der Finanzkrise 2009. Die nächste Delle in der Wachstumskurve ist jedoch in Sicht: Für das Jahr 2020 rechnet die Bundesregierung aufgrund der Corona-krise mit einem Rückgang des BIP um 6,3 Prozent. Doch auch den Aufholprozess sehen die Ökonomen bereits voraus: Für das Jahr 2021 erwarten sie einen Zuwachs in Höhe von 5,2 Prozent.
Leicht zu durchblicken sind diese Zusammenhänge nicht. Merken können wir uns: Konsum ist wichtig, um die Wirtschaft eines Landes zu erhalten. Je mehr die Menschen einkaufen, desto mehr muss produziert werden, desto mehr Arbeitnehmer werden beschäftigt, desto mehr Steuereinnahmen hat der Staat, die er weiterverteilen und zur Verfügung stellen kann. Um unseren Wohlstand und unsere soziale Sicherheit zu erhalten, davon sind viele Experten überzeugt, muss die Wirtschaft immer weiter wachsen.
Augsburg Wie wäre es mit einem neuen Kühlschrank? Oder neuen Schuhen? Gerade jetzt, wo der Coronastillstand beendet ist, ist die beste Zeit, um Geld auszugeben. Überall gibt es Rabatte. Selbst die Bundesregierung hat die Mehrwertsteuer gesenkt, statt 19 müssen Kunden nur noch 16 Prozent zahlen. Zeit also, um endlich wieder shoppen zu gehen. Oder? Nicht für Agnes Mayr und Sebastian Wendland. Er spart lieber – und sie hat wegen Corona viel weniger Einkommen zur Verfügung.
Die ganzen Angebote klingen für Agnes Mayr zwar verlockend, aber Geld ausgeben möchte die 46-Jährige trotzdem nicht. Sie ist verheiratet, hat eine Tochter und arbeitet in Augsburg bei einer Sozialberatungsstelle. Als die Corona-pandemie ausbrach, Geschäfte schließen mussten, wurde ihr Mann zu 100 Prozent in Kurzarbeit geschickt. Er ist es bis heute. Ein schwerer Schlag für die Familie. Auch wenn Mayr ihre Geschichte offen erzählt – öffentlich möchte sie es nicht tun, in Wahrheit heißt sie anders. Seit März fehlen ihr und ihrer Familie im Monat 1200 Euro. „Da überlegt man sich schon ganz genau, was man wirklich braucht“, sagt sie. Neue Sommermode? Ein neuer Fernseher? Das wirkt nun wie Verschwendung. Daran ändern weder Mehrwertsteuersenkung noch Rabatte etwas. „Für mich ist das überhaupt kein Kaufanreiz“, sagt Mayr. Aber warum spielt Shoppen eine überhaupt so eine große Rolle?
Bummeln und Einkaufen sind Erfindungen der Neuzeit. Fast die gesamte Menschheitsgeschichte ging niemand shoppen. Einkaufsmeilen