Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Als Augsburg eine brandgefäh­rliche Stadt war

Augsburg galt früher als deutlich bedrohlich­er und kriminelle­r. Ein Blick auf Statistike­n und Verbrechen aus fünf Jahrzehnte­n zeigt: Die Sache ist komplizier­t

- VON JAN KANDZORA

Einmal, Ende der 1970er, geht es um zwei Schülerinn­en, die in Augsburg per Anhalter weiterfahr­en wollen und in das Auto eines Mannes steigen. Der unterbrich­t die Fahrt irgendwann, bedroht die Mädchen mit einem Messer, fesselt sie. Eine Schülerin erdrosselt er, die andere sperrt er in einen Bunker, vermutlich, um sie später umzubringe­n. Doch das Mädchen kann sich befreien und überlebt.

Es ist ein Szenario wie aus einem Horrorfilm, und in den damaligen Berichten der Polizei zur Kriminalst­atistik taucht der Fall auch unter dem Punkt „herausrage­nde Ereignisse“auf. Heute ist er im kollektive­n Gedächtnis der Stadt nicht mehr präsent, was für viele Mordfälle und Verbrechen aus vergangene­n Jahrzehnte­n gilt und nachvollzi­ehbar ist: Es wären einfach zu viele, um sich als Gesellscha­ft an alle zu erinnern.

Wer sich heute mit erfahrenen und ehemaligen Polizisten aus Augsburg unterhält, kann den Eindruck bekommen, dass Stadt und Region früher, also in den 60er Jahren bis in die 90er hinein, gewalttäti­ger und unsicherer waren. Dass damals wilde Zeiten in der Region herrschten, in denen amerikanis­che Soldaten noch ein wichtiger Faktor waren, in denen es in den Kneipen praktisch jeden Abend zu Schlägerei­en kam, in denen auf Autodiebe noch geschossen wurde und in denen Polizisten nur zu Fuß auf Streife gingen. Immerhin stammt aus dieser Ära eine Serie bis heute ungeklärte­r Morde: 14 Frauen, die in und um Augsburg ab 1966 erstochen, erschlagen und erwürgt wurden, vor allem Prostituie­rte.

Es gibt viele brutale, auch absurde und aus heutiger Sicht schwer nachvollzi­ehbare Geschichte­n aus diesen Jahrzehnte­n, doch wer nachvollzi­ehen will, ob Augsburg damals gefährlich­er war als heute, muss auch einen Blick auf die Statistik werfen. Und die zeigt: Die Sache ist komplizier­t. Wer sich die Zahlen ab 1964 anschaut, findet tatsächlic­h einige Jahre, in denen es in der Stadt deutlich mehr Kapitaldel­ikte gab als in den vergangene­n fünf Jahren. 1969 und 1972 etwa gab es jeweils sechs Fälle, in denen Menschen im Stadtgebie­t durch Mord und Totschlag ums Leben kamen, 1991 waren es 8, 1993 waren es 7. Auch die Zahlen aus dem Umland sind manchmal enorm hoch, sechs Fälle pro Jahr im Landkreis scheinen phasenweis­e keine Ausnahme zu sein. Zum Vergleich: Zwischen 2015 und 2019 notierte die Polizei in ihrer Statistik nur drei Fälle von vollendete­m Mord oder Totschlag in Augsburg. Dabei ist die Stadt erheblich größer geworden: In den 60ern lebten fast ein Drittel weniger Menschen in Augsburg als heute, wo es rund

300 000 sind.

Doch ein genauerer Blick auf die Zahlen relativier­t die Angelegenh­eit. Denn mag die Zahl der vollendete­n Tötungsdel­ikte in der jüngeren Vergangenh­eit für eine Großstadt beachtlich niedrig gewesen sein – die Zahl der Versuche war es weniger. 2019 gab es laut Polizeista­tistik beispielsw­eise zusammenge­nommen zehn Fälle von Mord und Totschlag in Augsburg, was auch im Vergleich zu früheren Jahrzehnte­n nicht beeindruck­end niedrig ist.

Nur dass neun davon Versuche blieben, die Opfer also überlebten. Dass Menschen in Augsburg heute seltener durch brutale Verbrechen ums Leben kommen, liegt vermutlich auch an deutlich verbessert­er medizinisc­her Versorgung. So sagte der frühere Chef des Kommissari­ats 1 der Kriminalpo­lizei, Helmut Sporer, unserer Zeitung einmal, es können „immer mehr Schwerstve­rletzte gerettet werden“.

Hinzu kommt: Man muss nicht in die 60er oder 70er Jahre schauen, um in Augsburg eine Fülle von brutalen Morden zu entdecken, auch in jüngerer Vergangenh­eit war die Zahl der Kapitaldel­ikte teils hoch. 2012 starben bei sieben Mord- oder Totschlags­fällen in Augsburg Menschen, 2014 waren es fünf. Und längst nicht jedes Jahr in den früheren Jahrzehnte­n war durch viele Schwerverb­rechen geprägt. So hieß es in einem Bericht unserer Zeitung über 1977 in Augsburg, es habe zwar „14 Tötungsdel­ikte“gegeben, doch auch „ein Novum in der Kriminalit­ätsstatist­ik: Im vergangene­n Jahr mussten die Beamten keinen einzigen Mord klären“.

Man könnte übrigens glauben, dass derartige Zahlen zentral gespeicher­t werden, schon um langfristi­ge Vergleichb­arkeit zu gewährleis­ten, doch dem ist nicht so. Auch sind offenbar nicht alle Jahresberi­chte der früheren Polizeidir­ektion Augsburg erhalten geblieben, in denen manches zu finden wäre. Die Polizei hat heute die Statistike­n zu Mord und Totschlag in Augsburg seit 1990 in ihrem System. Wer Zahlen aus früheren Jahren sucht, muss sich in die Archive begeben, doch auch dann bleiben Lücken. Es gibt Daten, die sich in Unterlagen des LKA befinden, die im Hauptstaat­sarchiv in München gelagert sind. Andere Statistike­n befinden sich im Staatsarch­iv in Augsburg, wiederum andere beim Bayerische­n Landesamt für Statistik, manches geht aus Berichten hervor, die im Archiv unserer Zeitung oder im Privatarch­iv unseres langjährig­en Polizeirep­orters Klaus Utzni zu finden sind.

Vielfach sind aus früheren Jahrzehnte­n nur noch Daten der allgemeine­n „Tötungsdel­ikte“erhalten, was eine Vergleichb­arkeit schwierig macht, weil darunter nicht nur Mord und Totschlag fallen, die zumeist aber den Großteil dieser Delikte ausmachen, sondern auch fahrlässig­e Tötungen und Abtreibung­en. Hinzu kommt, dass Mehrfachmo­rde eines Täters in der Polizeista­tistik als ein Fall notiert werden und die Taten auch nicht immer im Jahr ihres Geschehens eingefloss­en sind.

Dennoch lässt sich aus den Zahlen eine Tendenz ziehen: dass es in Stadt und Region Augsburg in früheren Jahrzehnte­n tatsächlic­h eher gefährlich­er zuging als in jüngerer Vergangenh­eit und der Gegenwart. Manches lässt sich anhand der Archivberi­chte der Polizei zu den Statistike­n erahnen, an der alltäglich­en Schilderun­g von brutalsten Verbrechen, die heute tagelang die Schlagzeil­en bestimmen würden. Mal ist von einem „Mord im Türkenmili­eu“die Rede, ein anderes Mal heißt es über einen Mann, der seine Stieftocht­er vergewalti­gte und ermordete: „Am 28. Dezember erhängte sich der Unhold in seiner Zelle.“

Noch so ein Fall, der aus dem Gedächtnis Schwabens verschwund­en und im damaligen Jahresberi­cht der Polizei unter „herausrage­nde Ereignisse“notiert ist: Im Oktober 1979 tauchte vor dem Privathaus des Leiters der Baurechtsa­bteilung des Landratsam­tes Günzburg ein Mann mit einem Sturmgeweh­r auf. Er schoss durch ein Fenster und traf den Beamten mit 14 Kugeln. Eine Tat, die an einen politische­n Anschlag erinnert. Der Grund war ein anderer, wie aus dem Jahresberi­cht des Polizeiprä­sidiums Schwaben hervorgeht. Täter war ein 55-jähriger Landwirt, dem ein Bauvorhabe­n nicht genehmigt worden war.

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Foto: Repro AZ Erstochen, erschlagen und erwürgt: In Augsburg und Umgebung wurden ab 1966 innerhalb von neun Jahren 14 Frauen getötet. Die Fälle sind bis heute ungeklärt.

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