Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Job weg wegen Corona: „Ich habe mich nutzlos gefühlt“

Viele Menschen wurden durch die Krise arbeitslos. Zwei Augsburger schildern ihre frustriere­nden Erlebnisse. Ist Ihnen Ähnliches widerfahre­n? Gerne würden wir Ihre Geschichte hören: So können Sie an der Bürgerrech­erche „Job weg – was nun?“teilnehmen

- VON TOM KROLL

Florian Kastner* und Waltrud Balder* haben in den vergangene­n Monaten viel verloren: ihre Jobs, ihre Kollegen und auch Geld. Kastner hat sich inzwischen gefangen und sagt heute Sätze wie: „Ich hatte ein wahnsinnig­es Glück während Corona.“Der 31-Jährige lächelt und nimmt einen Schluck Latte Macchiato mit Hafermilch in einem Café in der Maximilian­straße.

Glück – da hat die arbeitslos­e Kassiereri­n Waltraud Balder andere Erfahrunge­n gemacht. Sie beschreibt ihren aktuellen Gefühlszus­tand mit einem Satz, der so beginnt: „Ich bin in ein…“Dann hält sie inne und schaut über ihre Schultern nach links und rechts. Es hat den Anschein, als ob sie sichergehe­n will, dass sie niemand in dem Café hören kann. Um die Wahrheit nicht ausspreche­n zu müssen, formt Balder mit beiden Daumen und Zeigefinge­rn ein Loch. Für einen kurzen Augenblick schaut sie hinein. Balder will mit dieser Geste zeigen: Sie ist in ein Loch gefallen.

Geschichte­n wie die von Balder und Kastner verbergen sich hinter den Monat für Monat veröffentl­ichten Zahlen zur Arbeitslos­igkeit. Beide wollen nicht mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung stehen, Jobverlust ist noch immer ein Thema, das mit Scham besetzt ist. Offiziell gezählt wurden für die Monate März bis Juli 2305 Menschen, die sich in Augsburg arbeitslos gemeldet haben. Nicht alle Augsburger sind in gleichem Maße von der Krise betroffen: Die Pandemie trifft vor allem diejenigen hart, die vorher schon wenig hatten und in der Arbeitswel­t kämpfen mussten. Frauen und junge Menschen sind ersten Studien zufolge härter von der Krise betroffen als andere.

Das liegt daran, dass angeschlag­ene Branchen wie der Einzelhand­el und das Gastgewerb­e häufiger Frauen beschäftig­en. Und auch Student Kastner zählt zu einer Risikogrup­pe in der Corona-arbeitswel­t. Er ist Nebenjobbe­r in einem Club und freiberufl­ich in der Erwachsene­nbildung tätig. In die Statistik des Arbeitsamt­es geht Kastner nicht ein, er ist offiziell Student, kein Arbeitslos­er. Das Problem des Jobverlust­s wird unterschät­zt. Wie haben Kastner und Balder die Krise erlebt?

Vor vier Monaten im April: Der Student und die Kassiereri­n standen noch mitten im Berufslebe­n, als sich die Pandemie auch hier ausbreitet­e. Von einem Tag auf den anderen war Kastner, breite Schultern, Schirmmütz­e, Bart, seine Jobs los. Er finanziert­e sein Leben und zur Hälfte das seines Sohnes, indem er seit drei Jahren Bierfässer durch einen Club schleppte. Außerdem gab er Nachhilfe und jobbte als Lehrer in einem

Statt sich auf sein Studium zu konzentrie­ren, muss er nun Geld verdienen. Auch für seinen sechsjähri­gen Sohn.

Kastner ist keiner der Studenten, die Monat für Monat Geld von ihren Eltern überwiesen bekommen. Der Lehramtsst­udent, der eine Bankkaufma­nnslehre absolviert­e, antwortet auf die Frage, was ihm wichtig sei: „Finanziell­e Unabhängig­keit.“Fast hätte er sie durch Corona verloren, seine Unabhängig­keit.

Was zunächst wegfiel, waren die Kollegen im Club, die zweite Familie, wie Kastner sagt. Als Corona kam, wurde einer nach dem anderen entlassen. Dann brachen Kastner

noch seine Jobs als freiberufl­icher Lehrer weg. Was blieb, war die Verantwort­ung für seinen Sohn, der ständig aus seinen Klamotten herauswach­se. Kastner sagt: „Diese kleinen Schuhe sind so teuer.“Was ebenfalls blieb, war der Druck im Studium. „Ich stand vier Tage vor der wichtigste­n Klausur meines Lebens.“Am Abend vor seinem Examen stand fest: Der Stress ist zu groß. Kastner war von seiner neuen Lebenssitu­ation übermannt, für seinen Arzt war die Sache klar – er bescheinig­te Prüfungsun­fähigkeit.

Am Anfang der Krise ging die Kassiereri­n Balder in Kurzarbeit, von ihrem Gehalt blieben 60 Profortbil­dungszentr­um.

zent übrig. „Ich dachte, ich würde nach der Krise weiterarbe­iten“, sagt sie, und schließt an: „Mir haben meine Mädels da schon gefehlt.“Mädels, so nennt Balder ihre ehemaligen Kolleginne­n, bei Balder fällt das Wort „Familie“, wenn sie länger über die Frauen von ihrer Arbeitsste­lle spricht.

Die Geschichte von Balders Abstieg begann vor einigen Monaten mit einem Brief. Vor Corona hatte sich die 52-Jährige an der Kasse einen Fehler geleistet. Sie hatte sich vertippt. Die Kassen waren neu, erzählt Balder, und eine Bestellung sei nicht korrekt abgesendet worden. Sie rief bei ihrem Chef an, entschulau­ch

digte sich, die Angelegenh­eit schien abgehakt. Dann, als die Geschäfte schließen mussten, bekam sie Post. Der Absender – ihr Arbeitgebe­r. In dem Schreiben wurde sie für ihren Bestellfeh­ler abgemahnt und schon einige Wochen später war wieder Post auf dem Weg zu Balder.

Zum Interview in der Bäckereifi­liale ist sie nicht alleine erschienen. Ihre erwachsene Tochter sitzt ihr gegenüber und leistet Unterstütz­ung. Sie tut das, indem sie viel nickt, indem sie ihre Mutter darin bestärkt, frei über das Erlebte zu sprechen. Über ihre Mutter sagt die Tochter: „Sie hat immer geschuftet, sie ist ein Arbeitstie­r.“

Einige Wochen nach der Abmahnung bekam sie den zweiten Brief. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass sie betriebsbe­dingt gekündigt sei. Für Balder ein Schock. Sie hatte ihren festen Arbeitsver­trag erst vor der Pandemie unterschri­eben. Davor habe sie sich von einem Vertrag zum nächsten gehangelt. Etwas mehr als zwei Jahre hat sie in dem Betrieb gearbeitet. Einmal noch kehrte sie in das Geschäft zurück, leerte ihren Spind und verabschie­dete sich von ihren „Mädels“.

Mit ihrem Vorgesetzt­en gab es kein klärendes Gespräch, sagt Balder, sie habe keine richtige Antwort auf die Frage erhalten: Warum? Balder sucht nun selbst nach Antworten für ihre plötzliche Kündigung. „Die haben Kosten reduziert“, erklärt sie ihre Situation. „Die haben die anderen Mitarbeite­r an der Kasse angelernt.“Balder sagt: „Und ich bin auf einmal nutzlos geworden.“

Noch immer wartet Balder auf ihr Arbeitszeu­gnis, die Bescheinig­ung für das Arbeitsamt ist erst letzte Woche eingetroff­en, fast zwei Monate nach ihrer Kündigung. Balder hat eine kleine Abfindung erhalten.

Bevor Kastner an der Maximilian­straße im Café sitzt, spaziert er

Die Liebe gab ihm wieder Hoffnung

durch Augsburgs Gassen. Er hat Feierabend gemacht. Sein neuer Arbeitspla­tz liegt in einem modernen Bürogebäud­e nur wenige Schritte von der Ulrichskir­che entfernt. Kastner erzählt, dass er nach seiner Krankschre­ibung einfach nur raus wollte, das Risiko verringern, dass ihm zu Hause alles zu schwer werde. Er lud sich eine Dating-app herunter.

Dann das „Match“, das alles veränderte. Ein erstes Treffen mit einer Frau am Kuhsee, nach weiteren Dates der erste Kuss. Kastner verliebte sich. Und die Frau verliebte sich in Kastner. Schnell wurden die beiden ein Paar und seine Freundin kurz darauf seine Chefin. In ihrem Unternehme­n suchten sie noch jemanden, erzählt er. Er wurde eingestell­t. Er sagt: „Ich hatte so ein Glück.“Heute arbeitet er in einem Callcenter in der Immobilien­branche. Er arbeitet dort in Teilzeit und verdient so viel, wie er und sein Sohn zum Leben brauchen.

Zwei Geschichte­n aus der Corona-zeit: Kastners Studienabs­chluss wird sich um ein Jahr verzögern. Dass er sich seine Unabhängig­keit bewahren konnte, verdankte er dem Zufall. Die Kassiereri­n Balder ist nun wieder auf Jobsuche – mit dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden.

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* Namen geändert

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Foto: Peter Kneffel, dpa (Symbol) Die Corona-krise wirkt sich auf Wirtschaft und Handel: Zahlreiche Menschen haben dadurch ihre Jobs verloren. Wir suchen Betroffene aus Augsburg und Umgebung, die ihre Geschichte mit uns teilen wollen.

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