Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (23)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
Von meinen Kunden. Auch die Geschichten, die du erzählst, sind nicht schlecht.“
„Das sind keine Geschichten. Das sind Kriminalfälle, die ich selbst erlebt habe“, sagte ich.
„Gut, aber mit ein wenig Würze werden sie besser als jeder Film.“
„Ich habe nie gehört, dass du sie erzählt hättest.“
„Stimmt, weil ich immer aufpasse, dass derjenige, der mir die Geschichte zugetragen hat, gerade nicht da ist.“
„Und du kannst dich immer daran erinnern, wer dir eine Geschichte erzählt hat?“, fragte ich.
„Nicht immer, aber eigentlich tut das nicht viel zur Sache. Niemand wird seine Geschichte, wenn ich sie gewürzt habe, wiedererkennen.“
9. Operation Olivenöl Barudi studierte sorgfältig und konzentriert alle Informationen, die seine Mitarbeiter für ihn zusammengestellt hatten, machte Notizen am Rand, notierte da und dort ein
Fragezeichen. Danach ließ er das Blatt mit den mageren Personalien des toten Kardinals, das er vom Vatikanbotschafter bekommen hatte, in den Papierkorb gleiten, denn jetzt wusste er mehr über den Toten: Kardinal Angelo Cornaro, siebzig Jahre alt, stammte aus einer mächtigen venezianischen Adelsfamilie. Er war ein selbstbewusster Mann und in Rom als großer Gegner der Mafia bekannt. Angelo war zehn, als Mafiosi seinen Vater, einen aufrechten und mutigen Richter, vor den Augen der Familie erschossen hatten. Der Kardinal galt als ein Mann des Dialogs mit anderen Kulturen und als Islamexperte. Deshalb war er auch einer der wenigen, der es wagte, Papst Benedikt XVI. wegen seiner Kritik am Judentum, Islam und Protestantismus scharf zu kritisieren.
„Und ausgerechnet dieser Mann wird hier umgebracht!“, sagte Kommissar Barudi zu Nabil. Er beauftragte ihn, Kontakt mit dem Personal in der italienischen und der vatikanischen Botschaft aufzunehmen und herauszufinden, was genau der Grund für die Reise des Kardinals gewesen war, warum sie angeblich heikel und gefährlich war. Er verriet Nabil nichts von seinem Gespräch mit dem katholischen Patriarchen und sagte nur, er sei sicher, der Kardinal habe seine Pläne sogar vor der katholischen Kirche in Syrien geheim gehalten. Nabil solle recherchieren, ohne viel Staub aufzuwirbeln. Sollte er dabei anecken, würde Barudi zu ihm stehen und die Schuld auf sich nehmen. Nabil wusste, dass Barudi einen Mitarbeiter nie im Stich ließ. Als Ali einmal den Vergewaltiger eines sechzehnjährigen Mädchens fast zu Tode geprügelt hatte, nahm Barudi die Sache auf seine Kappe und steckte auch die Rüge des Innenministers ein.
Drei Tage später kam Nabil in Barudis Büro und berichtete. Barudi habe mit seiner Vermutung richtiggelegen. Der Kardinal sei auf einer Geheimmission gewesen, es sei um religiöse Fragen gegangen, aber was der Kardinal genau wollte, wisse niemand. Farid, Programmierer und Ehemann einer Sekretärin in der vatikanischen Botschaft, wisse wohl so einiges, habe aber nicht sprechen wollen, obwohl er mit Nabils Bruder eng befreundet war. Er war sich bewusst, dass der Mordfall geheim bleiben sollte und seine Frau ihre lukrative Stelle verlieren würde, wenn herauskam, dass sie geplaudert hatte. Aber im vertraulichen Gespräch sei Farid die Bemerkung herausgerutscht, die Mission des Kardinals im Norden sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. „Was für eine Mission?“, habe Nabil gefragt. Der Mann habe schweigsam zum Himmel gedeutet. „Das weiß nur der Herr im Himmel.“
„Leider ist der Herr der Welten verschwiegen, und man darf ihn nicht verhören. Kannst du nicht in seine Computerzentrale eindringen?“, hatte Nabil Farid gefragt. Es war eine Andeutung in doppelter Hinsicht, denn zum einen ließ sie erkennen, dass er von Farids heimlicher Leidenschaft als Hacker wusste, und zum anderen, dass er verschwiegen war. Aber natürlich lag auch eine Spur von Erpressung darin.
Das entging Farid nicht. Er jammerte, dass er nur wenig verdiene und vom Gehalt seiner Frau lebe, und er wolle kein Wort sagen, das seine Frau gefährde. Nabil ließ nicht locker und fragte, ob er ihm nicht wenigstens eine kleine Andeutung geben könne. Er solle nicht sprechen, sondern ihm nur ein stummes Zeichen geben. War es eine politische Mission? Farid schüttelte den Kopf. Eine wirtschaftliche? Wieder schüttelte er den Kopf. Eine geheimdienstliche? Auch nicht. Menschenrechte? Auch nicht … Schließlich fragte Nabil ganz direkt: „Missbrauch? Ich meine, ging es darum, ein sexuelles Vergehen von Priestern aufzudecken?“
Farid schüttelte den Kopf. Da fiel Nabil nur noch eine Möglichkeit ein. Man munkelte, dass viele Sekten, muslimische wie christliche, ihre Fühler ausstreckten, um in Syrien Fuß zu fassen.
„Eine religiöse Mission? Ich meine, irgendetwas mit dem Glauben oder mit Sekten?“
Diesmal schüttelte Farid den Kopf nicht. Er entschuldigte sich, und weg war er.
„Und so kehre ich mit leeren Händen zurück“, sagte Nabil enttäuscht.
Barudi tröstete seinen Mitarbeiter: „Nicht ganz, mein Freund. Wir sind immerhin einen kleinen Schritt weiter. Jetzt wissen wir eines mit Sicherheit, dass nämlich Kardinal Cornaro auf einer heiklen, womöglich hoffnungslosen religiösen Mission war. Ali hat bestätigt, was ich vom Botschafter erfahren hatte. Der Kardinal ist in einen Ort nahe Aleppo, möglicherweise in die kleine Stadt Derkas gereist. Das Olivenölfass stammte aus einer Küferei in Aleppo. Der Mord stellt sich nicht mehr ganz so willkürlich und zusammenhanglos dar. Nicht wie die blinde Tat eines gestörten Fanatikers. Vielmehr steht er im Zusammenhang mit einer gefährlichen und heiklen Aufgabe, die der Ermordete zu lösen hatte. Womöglich ist der Kardinal zu weit gegangen und hat, gewollt oder ungewollt, die Gefühle der Muslime verletzt. Wir wissen es nicht.“
Erst kurz vor achtzehn Uhr kam Major Atif Suleiman ins Haus. Die Beamten waren noch da, denn sie hatten über ihre Geheimkanäle erfahren, dass Suleiman später eintreffen würde. Alle taten deshalb sehr beschäftigt, rannten mit Papieren von Zimmer zu Zimmer, kopierten, tippten und machten Notizen. Das Gebäude der Kriminalpolizei ähnelte einem Ameisenhaufen, dachte Barudi amüsiert. Früher hatte er wegen dieser schleimigen Heuchelei gegenüber dem Chef Atemnot bekommen, jetzt, ein paar Monate vor seiner Pensionierung, betrachtete er das Verhalten wie der Verlierer einer Schlacht, die seit vierzig Jahre andauert, ein Verlierer, der erschöpft zurückblickt und nichts mehr ändern kann.
Wenn der Chef verreist war, kamen viele nur am Vormittag, um Tee zu trinken, die Post zu sichten, private Telefonate zu erledigen, und verschwanden dann wieder.