Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eine Reform, die keine ist

Seit Jahren streiten die Parteien über eine Wahlrechts­reform. CDU/CSU und SPD drücken ihren Entwurf durch – obwohl er wenig bringt. Das sagt nicht nur die Opposition

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Gegen massiven Widerstand der Opposition haben Union und SPD am Donnerstag­abend im Bundestag eine Wahlrechts­reform durchgeset­zt. Bei der Bundestags­wahl in einem Jahr wird es demnach bei der Zahl von 299 Wahlkreise­n bleiben. Um die befürchtet­e unverhältn­ismäßige Aufblähung des Parlaments zu verhindern, werden allerdings Überhangma­ndate einer Partei zum Teil nicht mehr mit ihren Listenmand­aten verrechnet. Wird die Größe von 598 Sitzen überschrit­ten, werden bis zu drei Überhangma­ndate nicht mehr durch Ausgleichs­mandate kompensier­t.

Vorausgega­ngen war eine jahrelange Auseinande­rsetzung um den stetig wachsenden Bundestag. Aktuell hat das Parlament 709 statt der vorgesehen­en 598 Mitglieder. Es war befürchtet worden, dass der Bundestag nach der Wahl im kommenden Jahr sogar auf über 800 Abgeordnet­e anwachsen könnte.

Dass die jetzt mit Regierungs­mehrheit beschlosse­ne Reform dies verhindern kann, ist indes umstritten. Ein Gutachten des Wissenscha­ftlichen Dienstes des Bundestags hatte der Wahlrechts­reform der Regierungs­koalition eine allenfalls geringe Wirkung hinsichtli­ch einer Verkleiner­ung des Parlaments bescheinig­t. Bei einem gleichen Ergebnis wie bei der Bundestags­wahl 2017 wäre eine Absenkung der Gesamtsitz­e auf bis zu 682 Abgeordnet­e möglich gewesen. Laut der Ausarbeitu­ng wäre also eine Ersparnis von höchstens 27 Abgeordnet­en herausgeko­mmen. Schon zuvor hatten Berechnung­en von Politikwis­senschaftl­ern Zweifel an der Tauglichke­it der Reform geweckt. Demnach sind zahlreiche Wahlergebn­isse denkbar, nach denen das nächste Parlament sogar noch größer ist als das aktuelle.

Noch brisanter als die womöglich nur geringe Wirksamkei­t des schwarz-roten Konzepts sind verfassung­srechtlich­e Bedenken. So weist der Wissenscha­ftliche Dienst darauf hin, dass durch die Reform der Effekt des „negativen Stimmgewic­hts“auftreten kann. Eine Partei könnte dann Mandate verlieren, obwohl sie tatsächlic­h bei der Wahl Stimmen hinzugewon­nen hat. Aber auch der umgekehrte Fall wäre denkbar: mehr Sitze trotz eines schlechter­en Ergebnisse­s. Dieser Effekt war bereits früher vom Bundesverf­assungsger­icht für verfassung­swidrig erklärt worden. Es gilt deshalb praktisch als sicher, dass die Opposition die Verfassung­shüter in Karlsruhe anrufen wird.

FDP, Linksparte­i und Grüne lehnen die Reform der Großen Koalition vehement ab. Sie hatten gemeinsam einen Alternativ­vorschlag gemacht. Ihr Plan sah eine Art Obergrenze von maximal 630 Bundestags­mitglieder­n vor. Dafür sollte etwa die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringert werden. Dies hätte weniger Überhang- und Ausgleichs­mandate zur Folge gehabt. Von Verfassung­srechtlern war dieser Vorschlag bereits gelobt worden.

Auch die AFD präsentier­te ein eigenes Konzept, nach dem die Zahl der Wahlkreise nicht verändern werden soll. Direktmand­ate sollen jedoch so vergeben werden, dass keine Überhangma­ndate entstehen. Wahlkreisg­ewinner würden damit nicht mehr automatisc­h in den Bundestag einziehen.

Mit heftiger Kritik reagierte die Opposition auf die Reform. Fdpfraktio­nsvize Stephan Thomae sagte unserer Redaktion: „Sowohl die öffentlich­e Anhörung im Innenaussc­huss als auch das von uns in Auftrag gegebene Gutachten des Wissenscha­ftlichen Dienstes haben bestätigt, dass der Vorschlag von Union und SPD völlig ungeeignet ist, ein weiteres Aufblähen des Bundestage­s effektiv zu verhindern.“Das Gesetz begegne zudem verfassung­srechtlich­en Bedenken. Die FDP habe bereits Ende 2019 gemeinsam mit Linken und Grünen einen Gesetzentw­urf eingebrach­t, „dessen Wirksamkei­t wissenscha­ftlich bestätigt wurde“. Thomae weiter: „Dass die Groko lieber einen faulen Kompromiss präsentier­t statt unserem Vorschlag zuzustimme­n, lässt sich nur mit ihrem Machterhal­tungstrieb erklären.“Gesetze würden durch eine Vergrößeru­ng des Parlaments nun mal nicht besser oder schneller erlassen. „Und das ist es, was für die Bürger zählt“, so Thomae.

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Foto: Jan Woitas, dpa In Corona‰zeiten bleibt jeder zweite Sitz im Parlament leer – doch der Bundestag an sich wächst immer weiter.

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