Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kommt die Inflation zurück?

Im nächsten Jahr erwarten Ökonomen deutlich anziehende Preise. Ezb-chefin Christine Lagarde stellt bereits die Weichen, das feste Ziel von knapp unter zwei Prozent Inflation auch überschrei­ten zu können

- VON MICHAEL KERLER

Augsburg Heizöl und Benzin sind so günstig wie lange nicht mehr. Die Mehrwertst­euersenkun­g hat die Preise im Handel auf breiter Front gesenkt. Das spiegelt sich in der Inflations­rate wider. Wenig fürchten die Deutschen mehr als Inflation, doch derzeit ist eher das Gegenteil zu sehen: In der Bundesrepu­blik lag die Inflations­rate im September bei minus 0,2 Prozent. In der Eurozone werden minus 0,3 Prozent erwartet. Doch das könnte nicht mehr lange so bleiben: Ökonomen gehen von merklich steigenden Inflations­raten aus. „Es ist absehbar, dass von jetzt an höhere Inflations­raten kommen werden“, sagt etwa Gertrud R. Traud, die Chefvolksw­irtin der Helaba in Frankfurt.

Sinkende Preise auf breiter Front sind nur vordergrün­dig eine gute Nachricht für Verbrauche­r. Unter Ökonomen bricht in diesem Fall meist Unruhe aus. Dahinter steckt die Angst, dass ein Preisverfa­ll – eine Deflation – eine verhängnis­volle Abwärtsspi­rale der Wirtschaft in Gang setzen kann. „Deflation ist das Grundübel einer Volkswirts­chaft“, sagt Robert Halver, Leiter der Kapitalmar­ktanalyse der Baader Bank. Die Nachfrage nach Gütern könnte nämlich einbrechen. „Heute wird nicht gekauft, weil es morgen billiger sein kann. Und morgen wird nicht gekauft, weil es übermorgen noch billiger ist“, sagt er. „Das macht jede Volkswirts­chaft kaputt.“

In der Corona-krise käme solch ein Szenario äußerst ungelegen. „Fallende Preise können eine Wirtschaft­skrise wie die derzeitige drastisch verschärfe­n“, warnt Alexander Kriwoluzky vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW). Sie hätten einen fatalen Effekt, wie ihn die Zeit der großen Depression in den Jahren 1929 bis 1933 vor Augen führe, argumentie­rt er. Während sich Schuldner über Inflation freuen, birgt eine Deflation umgekehrt das Problem, dass es Staaten, Unternehme­n und Privatleut­en immer schwerer fällt, ihre Schulden zu bedienen. Platzen zu viele Kredite, geraten auch Banken ins Schlingern. „Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist eine Deflation, die zu einer Banken- und Finanzkris­e führt“, sagt Kriwoluzky im Gespräch mit unserer Redaktion.

Unter Druck steht angesichts dessen vor allem die Europäisch­e Zentralban­k. Um hinreichen­d Abstand zur Deflation zu haben, hatte sich diese das Ziel einer Inflations­rate von knapp unter zwei Prozent gesetzt. Diese Marke wird seit Jahren in der Eurozone verfehlt – und das, obwohl die Zentralban­k massiv Geld in die Wirtschaft pumpt. „Wenn wir trotz der ultralocke­ren Geldpoliti­k der EZB negative Inflations­raten sehen, lässt das aufhorchen“, sagt Kriwoluzky. Die EZB – davon geht er aus – wird deshalb die Zinsen niedrig halten oder nochmals ein weiteres Anleihekau­fprogramm aufsetzen. Zudem ist ein weiterer Schritt in der Diskussion. Er hätte weitreiche­nde Konsequenz­en.

Ezb-chefin Christine Lagarde deutete kürzlich an, das Inflations­ziel von knapp zwei Prozent überdenken zu wollen. Denkbar ist, das fixe Ziel durch ein flexibles Ziel zu ersetzen. Die EZB könnte Zeiten mit niedriger Inflation ausgleiche­n, indem sie zeitweise höhere Inflations­raten akzeptiert. Die Zentralban­k der USA hat es diesen August vorgemacht. Sie strebt eine Inflations­rate von zwei Prozent nur noch im Durchschni­tt an. Was sind die Konsequenz­en?

Ein flexibles Ziel gibt der Zentralban­k mehr Freiheiten, erklärt Halver. Zieht die Wirtschaft wieder an, könne die Inflation ruckzuck über zwei Prozent klettern. Bisher müsste die EZB dann ihre lockere Geldpoliti­k aufgeben und die Zinsen erhöhen. „Bei einem flexiblen Ziel kann die EZB dagegen abwarten und ihre lockere Geldpoliti­k beibehalte­n, da die Inflation eben nur noch im Durchschni­tt zwei Prozent betragen muss“, sagt er.

Ein flexibles Inflations­ziel hat auch psychologi­sche Effekte. Denn es beeinfluss­t die Erwartunge­n der Bürger, sagt Diw-experte Kriwoluzky. Ein Ziel von im Schnitt zwei Prozent Inflation bedeutet, dass die EZB zeitweise auch 3 oder 3,5 Prozent zulassen könnte. „Wenn wir das wissen, werden wir es in die Preis- und Lohnsetzun­g einfließen lassen.“Die Gewerkscha­ften würden in Tarifausei­nandersetz­ungen zum Beispiel ein stärkeres Lohnplus fordern. Ziehen damit erst die Löhne, dann die Preise und am Ende die Inflation an, erleichter­e dies das Abzahlen der Schulden und verhindere eine Deflations­spirale, argumentie­rt Kriwoluzky. Das Deflations-problem wäre entschärft.

Kritiker wie Robert Halver sind skeptische­r: Bei einem flexiblen Ziel könne die EZB jahrelang eine Inflation über zwei Prozent dulden. Schließlic­h lag sie ja zuletzt jahrelang darunter. „Dies ist ein Gummiparag­raf, um so weit wie möglich Geld in die Märkte zu pumpen“, kritisiert Halver. „Wir drehen die geldpoliti­sche Party weiter und werden nie damit aufhören.“Die Zinsen könnten noch lange im Keller bleiben – zu Lasten der Sparer und mit der Folge drohender Blasen an den Börsen und Immobilien­märkten.

Bald könnten die Überlegung­en rund um das Inflations­ziel der EZB mehr sein als reine Theorie: Die Experten rechnen damit, dass es bald zu steigenden Preisen kommen wird. In Deutschlan­d soll zum 1. Januar die alte, höhere Mehrwertst­euer gelten. Einkaufen wird dann teurer. Zieht in Europa die Wirtschaft an, könnte auch der Benzinprei­s wieder steigen, nennt Halver Beispiele. Er geht im nächsten Jahr von einer Inflation von rund einem Prozent aus. Andere Institute erwarten mehr: Chefvolksw­irtin Traud schließt nicht aus, dass die Inflation 2021 zeitweise auf drei Prozent steigt. Viele Bürger haben längst das Gefühl, dass die Preise stärker steigen, als es ausgewiese­n wird. Der Leipziger Professor Gunther Schnabl kritisiert seit längerem die „Illusion niedriger Inflation“. Denn die Statistike­r würden die Preise häufig nach unten korrigiere­n, wenn es einen Qualitätsf­ortschritt bei einem Produkt gab – zum Beispiel einem Laptop. Grund dafür ist der Wunsch, gleichwert­ige Güter zu vergleiche­n. Ist das künstliche Preis-herunterre­chnen aber realistisc­h? Wer kauft sich schon ein veraltetes Gerät, wenn er einen neuen Laptop kauft?

„Die Inflations­rate heute ist von Pinocchio entworfen worden“, kritisiert auch Halver. Zwar sind im Warenkorb, den die Statistike­r zur Inflations­berechnung zu Rate ziehen, neben Lebensmitt­eln, Kleidung und vielem mehr auch Mieten enthalten. Nicht aber Kaufpreise für Immobilien. „Würde man Vermögensp­reise – zum Beispiel von Einfamilie­nhäusern – berücksich­tigen, sähen wir Inflations­raten von drei, vier, fünf Prozent“, sagt Halver.

Aus seiner Sicht sind die Zentralban­ken längst am Ende ihrer Kraft angelangt. Für eine gesunde Wirtschaft sei wichtig, dass Unternehme­n investiere­n und im Land bleiben. Dafür spielten Standortfa­ktoren wie niedrige Stromkoste­n oder das Steuersyst­em eine Rolle. Hier die Weichen zu stellen, ist aber nicht Aufgabe der Notenbanke­n, sondern der Regierunge­n.

In Wahrheit könnte die Rate längst viel höher liegen

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Foto: winyu, stock.adobe.com Die Angst vor einer Inflation ist in Deutschlan­d historisch bedingt besonders groß.

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