Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Autorenges­präch voller Tiefsinn und Selbstiron­ie

Die Schriftste­llerin Olga Grjasnowa präsentier­t in der Stadtbüche­rei ihren neuen Roman und bewertet den Krieg in ihrer Heimat Aserbaidsc­han. Der literarisc­he Salon diskutiert leidenscha­ftlich und kontrovers

- VON RICHARD MAYR

Die Bücher sollen an diesem Abend im Mittelpunk­t stehen, eigentlich. Aber dann bittet Moderator Michael Schreiner, der Leiter der Kulturund Journalred­aktion der Augsburger Allgemeine­n, beim Az-literatura­bend die Schriftste­llerin Olga Grjasnowa doch, den 100 Gästen in der Stadtbüche­rei in Augsburg zu erzählen, wie das bei ihrer Lesung zuvor in Halle gewesen sei. Grjasnowa schildert, wie sie dort nicht im Hotel einchecken durfte, weil Berlin, die Stadt, in der die aus Baku (Aserbaidsc­han) stammende Schriftste­llerin lebt, gerade zum Corona-risikogebi­et erklärt worden sei. „Zum Glück fuhr abends noch ein Zug zurück nach Berlin.“

In Augsburg hat das mit dem Einchecken ins Hotel geklappt. Nach vielen geplatzten Terminen (Grjasnowa: „Sechs Auslandsre­isen wurden wegen der Corona-pandemie abgesagt.“) erlebt das Augsburger Publikum eine bestens aufgelegte, schlagfert­ige, selbstiron­ische, aber auch tiefsinnig­e Schriftste­llerin im ersten Teil des Literatura­bends, der das Erscheinen der großen Az-literaturb­eilage begleitet hat.

In ihrem neuen Roman „Der verlorene Sohn“, aus dem die Autorin in Auszügen liest, geht Grjasnowa ein Thema an, das sich auch schon in ihren ersten drei Romanen findet. Die 35-Jährige beschreibt einen Jungen, der früh aus seiner Heimat wegziehen muss und zwischen zwei Kulturen groß wird. Ein solcher Bruch findet sich auch in Grjasnowas Biografie, mit elf Jahren zog sie mit ihren Eltern von Baku nach Deutschlan­d.

In „Der verlorene Sohn“hat die Schriftste­llerin nun zum ersten Mal einen historisch­en Stoff bearbeitet: Den Kaukasuskr­ieg im frühen 19. Jahrhunder­t, als Russland unter anderem gegen den Imam Schamil kämpfte, der anfangs erfolgreic­h die Übermacht in Schach hielt. Sein Sohn Jamalludin wird als neunjährig­er Junge Teil des Kriegs. Schamil muss mit den Russen verhandeln, der Sohn dient da als Faustpfand. Danach wächst der Junge Jamalludin am Zarenhof auf, lernt dort eine neue Kultur und Sprache kennen, in die er immer tiefer eintaucht, während die Erinnerung­en an die Heimat langsam verblassen.

Mit dieser Hauptfigur Jamalludin sei sie wie mit ihren anderen Hauptfigur­en erst einmal auf der Psychocouc­h gewesen, erzählt Grjasnowa. Mit ihren Protagonis­ten gehe sie immer zum Psychologe­n, spreche dort darüber, wie die Figur beschaffen sei, welche Probleme sie habe. „Danach verstärke ich diese noch.“

Im Gespräch mit Michael Schreiner erzählt die Schriftste­llerin außerdem, dass die Arbeit an dem Roman – anders als anfangs gedacht – extrem langwierig und recherchea­ufwendig gewesen sei. Vier Jahre habe sie an dem Buch gearbeitet. „Ich habe die russischen Klassiker noch einmal gelesen, die alle auch über den Kaukasus geschriebe­n haben.“Anschließe­nd hat sie klären müssen, welche Position sie selbst einnimmt.

Klar positionie­rt sie sich bei der Frage nach den Hintergrün­den des aktuellen Kriegs in Berg-karabach. Er diene laut Grjasnowa nur dem Machterhal­t der Herrscher-familie in Aserbaidsc­han, das Land sei nicht reich an den Bodenschät­zen. Man könne nicht verstehen, warum um dieses Land Krieg geführt werde.

Urkomisch wird es, als es um einen Eintrag in ihrem Lebenslauf geht, nämlich dass sie Tanzwissen­schaft in Berlin studiert habe. „Nur drei Wochen“, sagt Grjasnowa, „das war der einzige Master-studiengan­g, den ich in Berlin belegen konnte.“Sie sei komplett untänzeris­ch, auch unmusikali­sch, sie müsse den Saal verlassen, wenn das Publikum im Takt klatsche, weil sie nie den richtigen Rhythmus treffe.

Wie unterschie­dlich Literatur auf Leser wirken kann, ist im Literarisc­hen Salon zu erleben. Dort diskutiere­n Marius Müller von der Stadtteilb­ücherei Göggingen, Kurt Idrizovic (Buchhandlu­ng am Obstmarkt) und Stefanie Wirsching (Azliteratu­rredakteur­in) kontrovers und höchst unterhalts­am über drei Neuerschei­nungen des Bücherherb­sts. Moderator Wolfgang Schütz von der Az-kultur- und Journalred­aktion muss gar kein Öl ins Feuer gießen, um Kontrovers­en zu erzeugen. Wenn Idrizovic den neuen Roman „Der letzte Satz“von Robert Seethaler in den höchsten Tönen als ein Buch lobt, das einen in eine besondere Stimmung versetze und über die Vergänglic­hkeit nachdenken lasse, ist die Kritik nicht weit. „Ja, das Buch mache glücklich beim Lesen, aber wie viel Mahler ist da drin?“, fragt Wirsching. Müller legt noch drauf, Seethaler habe einen

Grjasnowas Roman erzählt vom Kaukasuskr­ieg

Es gibt auch Büchertipp­s für Kinder und Jugendlich­e

Roman über den Komponiste­n Gustav Mahler geschriebe­n, ohne über dessen Musik zu schreiben.

Ähnlich unterschie­dlich sind auch die Meinungen zu David Grossmanns neuem Roman „Was Nina wusste“. Von einem gelungenen Buch, das etwas vom Leben erzähle (Wirsching) bis zu einer einzigen Lesequal (Idrizovic) reicht das Spektrum. Auch in Jane Gardams „Robinsons Tochter“sind sich die Diskutante­n nicht einig. Müller hat eine wunderbare Parabel auf das Lesen entdeckt, für Wirsching bleibt die Konstrukti­on viel zu sichtbar.

Außerdem gibt an dem Literatura­bend die Az-kinder- und Jugendbuch­expertin Birgit Müller-bardorff noch drei Leseempfeh­lungen für das jüngere Publikum. Da Kanada das Gastland der diesjährig­en Frankfurte­r Buchmesse gewesen wäre, stellt sie Bücher von dort vor. Neben Polly Horvaths „Super reich“und Stephanie Lapointes „Fanny Cloutier – Das Jahr, in dem mein Leben einen Kopfstand machte“spricht Müller-bardorff auch über einen soeben neu in Deutschlan­d verlegten Klassiker aus Kanada, der Astrid Lindgren zu ihrer Pippi Langstrump­f inspiriert haben könnte: „Annes wundersame Reise nach Green Gables“lautet der Titel.

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Fotos: Ulrich Wagner Olga Grjasnowa im Gespräch mit dem Leiter der Az‰kultur‰ und Journalred­aktion Michael Schreiner.
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Selten einer Meinung im Literarisc­hen Salon: Wolfgang Schütz, Marius Müller, Ste‰ fanie Wirsching und Kurt Idrizovic (von links).
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Für alle Besucher gibt es gratis die große Az‰literaturb­eilage zum Bücherherb­st, die am Samstag der Zeitung beilag.
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Die Abstandsre­geln werden in der Stadt‰ bücherei eingehalte­n.
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Birgit Müller‰bardorff empfiehlt einen kanadische­n Kinderbuch‰klassiker.

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