Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (76)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli giösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
Nun haben sie auf den Kardinal gehofft, erzählte mir meine Frau, aber der wurde umgebracht, bevor er den Weg zu ihr fand. Armer Salim! Der hat auch immer Pech!“
„Warum? Sie haben doch beide über ein Vierteljahrhundert gut davon gelebt, oder?“
„Ja, das schon, und die Spenden, die sie bekommen, könnten eine ganze Sippe ernähren. Aber das Glücksspiel ist ein Fass ohne Boden, verstehst du? Du kannst alles hineingießen, und bevor du dich umdrehst, ist es wieder leer. Salim Asmar hat sich auch noch verspekuliert. Das hat man mir im Vertrauen erzählt, und es muss unter uns bleiben. Deshalb hat er jede Menge Schulden.“
Mancini notierte in sein Heft: Ehemann ist hoch verschuldet. „Die Wunderheilerin ist in den Pranken eines idiotischen Mannes gefangen“, fuhr der Taxifahrer fort. „Es ist doch so, irgendeiner verarscht den Ehemann am Pokertisch, und dieser verarscht die Heilerin, und sie verarscht die einfachen Leute, und das gaunerische Ehepaar verarscht den Pfarrer. Das Ganze kommt mir vor wie eine billige Komödie mit Laiendarstellern.“
Der Taxifahrer war, wie Mancini kurz vor seiner Wohnung erfuhr, arbeitsloser Literaturwissenschaftler, Atheist und Vater von fünf Kindern.
In seiner Wohnung angekommen, packte Mancini seinen Koffer und tippte dann viereinhalb Stunden lang einen Bericht. Er schickte je eine Kopie per Mail an Barudi und an den Assistenten Ali, Letzterem verbunden mit der Bitte, die zwei, drei Punkte zu klären, die er gelb markiert hatte, und den Bericht dann zur Akte des Kardinals zu legen.
Er schlenderte durch das nächtliche Wohnviertel, aß in einem kleinen Restaurant zu Abend und dachte an Barudi, von dem er wusste, dass er zu dieser Stunde seine erste Kochstunde bei Schukri hatte. Er bewunderte den alten Kommissar, der nicht aufhören wollte zu lernen.
Wieder zu Hause, wurde er nach einem Glas Rotwein hundemüde. Die Schauspielerei ist anstrengend, dachte er und lachte amüsiert über den eitlen Ehemann, der sich beim Fotografieren in Positur gesetzt hatte. Die Frau wirkte auf den Fotos so plump wie auch in Wirklichkeit, aber der Mann hatte vor lauter Einbildung ganz glänzende Augen, die Italiener würden ihn attraktiv finden.
26. Futterneid
Barudi wachte nach kurzem Schlaf früh auf. Die Autowerkstatt, bei der er seit über zwanzig Jahren seinen Wagen reparieren ließ, lag im Norden der Stadt, fast zehn Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Er wollte sich weder von einem seiner Assistenten fahren lassen noch ein Taxi nehmen. Zum Glück fuhr ein Bus direkt von der Midan-straße, in der er wohnte, zum Vorort Qabun, wo die Autowerkstatt lag. Er musste sich beeilen, es blieb nicht einmal Zeit für einen Kaffee.
Es war kalt draußen, aber der Himmel hellte auf. Barudi stieg in den Bus, der auch zu dieser frühen Morgenstunde schon fast voll war. Aber er hatte Glück und ergatterte einen Fensterplatz. Ummantelt vom lebhaften Lärm der Passagiere ließ er sich nieder und schaute zum Fenster hinaus. Der Bus schob sich langsam durch das morgendliche Verkehrschaos.
Sein Nachbar, ein dürrer, unrasierter Mann in den Vierzigern, zog aus einem Rucksack, den er auf dem Schoß platziert hatte, ein dickes Sandwich. In aller Seelenruhe wickelte er es aus dem raschelnden Papier und biss genüsslich hinein. Eine Duftwolke machte sich breit: Mutabbal, Auberginenmus. Barudi kannte jetzt die Zutaten: gebackene oder gebratene Auberginen, Sesammus, Zitrone, Kumin, Pfeffer, Knoblauch und Joghurt. Er verfluchte sich dafür, ohne Frühstück in den Bus gestiegen zu sein.
Wieder schaute er zum Fenster hinaus.
War es sein Hunger, seine Neugier auf das Kommende oder waren es seine vom kurzen Schlaf gespannten Nerven, die seinen Blick schärften? Er entdeckte Dinge, die er sonst immer übersah. Der Bus kam nur sehr langsam vorwärts. Barudi staunte über die vielen Denkmäler, die großen Reliefs an den Häuserfassaden und die gigantischen Fotos des Herrschers. Als wäre der Präsident ein Maler, Kalligraph und Bildhauer und die Stadt wäre sein Atelier. Die Gemälde und Fotos seiner Person waren manchmal bis zu sieben Stockwerke hoch. Tausende solcher Denkmäler und Plakate gab es im ganzen Land.
Es ist seltsam, dachte Barudi, man macht das Radio an und hört den Präsidenten, man macht den Fernsehen an und sieht den Präsidenten, und wenn man alles ausschaltet, um in den Himmel zu sehen, dann zieht ein kleines Flugzeug einen dreißig Meter langen Spruch des Präsidenten durch die Luft. Die Titelseiten der Zeitungen und Zeitschriften klatschen dem Leser dessen grinsendes Bild ins Gesicht, noch bevor er seinen Morgenkaffee genossen hat. Will man sich in ein Buch flüchten, versperrt der Autor gleich zu Beginn den Fluchtweg: Der erste Satz ist eine lange Widmung an den Präsidenten. Wohin man sieht und hört: der Präsident. Wo bleibt Syrien? Wo bleibt dieses kultivierte alte Volk? Nur Ruinen und archäologische Forschungen weisen darauf hin, dass dieses Volk wunderschöne Paläste, Tempel, Amphitheater und Bäder geschaffen hat. Gibt es dieses großartige Volk heute noch? Sind das diese armseligen Menschen, die durch die Straßen rennen, als wären sie Ameisen? Aber hat man jemals Ameisen gesehen, die das Bild einer einzigen Ameise hochhalten? Gehören wir Menschen unter einer Diktatur also zu einer Gattung, die noch primitiver ist als die Ameisen?
Neben den Denkmälern standen auffällig unauffällig die Wächter, damit diese nicht besprüht oder anderweitig verunstaltet werden konnten. Barudis Cousin hatte erst kürzlich hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass ein Betrunkener erschossen worden war, weil er nach einer Party dem Druck seiner vollen Blase ausgerechnet am Denkmal des Präsidenten nachgegeben hatte.
Barudi erinnerte sich an die Bilder, die 2003 nach dem Einmarsch der Amerikaner in Bagdad um die Welt gegangen waren. Die Denkmäler von Saddam Hussein wurden niedergerissen und die Menschen traten mit Füßen dagegen!
In diesem Moment stieg Barudi der kräftige Geruch von Falafel in die Nase. Er drehte sich zu seinem Nachbarn um. Dieser nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Colaflasche, schraubte den Deckel wieder zu, bevor er sie wieder im Rucksack verschwinden ließ, und rülpste, um sich dann seinem zweiten Sandwich zu widmen. Barudi hatte den Geschmack der knusprigen Scheiben mit den leckeren Zutaten geradezu auf der Zunge.
„Mama, ich will auch einen Falafel“, hörte er ein Kind rufen.
„Wo soll ich dir hier im Bus Falafel besorgen?“, fragte die Mutter genervt zurück.