Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Auf Liebesentz­ug: das schwierige Verhältnis zur Nationalel­f

Immer weniger Fußballfan­s interessie­ren sich für Länderspie­le. Schuld daran ist auch Joachim Löw. Ob er noch einmal zu einem Aufschwung beitragen kann?

- VON TILMANN MEHL time@augsburger‰allgemeine.de

Fernseh-quoten sind nun wirklich kein Indikator für Qualität. Ansonsten würde das Dschungelc­amp sämtliche Kulturprei­se abräumen. Gleichwohl sind die Marktantei­le ein untrüglich­es Zeichen für das Interesse des Publikums. Über Jahrzehnte hinweg waren die Spiele der deutschen Nationalma­nnschaft ein Feiertag für die Programmge­stalter bei ARD und ZDF. Spielten Männer um die nationale Ehre, waren gute Quoten gewiss. Ob Aserbaidsc­han oder Brasilien: Mindestens zehn Millionen schauten immer zu.

Diese Zeiten sind vorbei. Am wenigsten hat das damit zu tun, dass mittlerwei­le RTL einen Teil der Spiele überträgt. Die Nationalma­nnschaft hat stark an Interesse verloren. Die Partie gegen die Schweiz verfolgten beispielsw­eise nur rund acht Millionen. Ex-nationalsp­ieler und Jetzt-fernsehexp­erte Bastian Schweinste­iger sprach davon, sich nicht mehr 100 Prozent mit der Mannschaft identifizi­eren zu können. Das dürfte der Hauptgrund für das schwierige Verhältnis sein. Joachim Löw macht es sich zu leicht, wenn er behauptet, das Interesse sei in Jahren ohne WM oder EM immer gesunken. Auf einem so niedrigen Niveau wie in diesem Jahr hatte es sich zuvor nie eingepende­lt.

Das viel beschworen­e Lagerfeuer, um das sich die Nation regelmäßig versammelt, wärmt nicht mehr. Die emotionale Verbindung zwischen Mannschaft und Fans ist verloren gegangen. Verband und Team haben in den vergangene­n Jahren das vorhandene Gemeinscha­ftsgefühl unterminie­rt.

Nach der wunderbare­n WM 2014 trieb Oliver Bierhoff die Vermarktun­g immer weiter voran. Wo andere Gefahren sahen, sah er Chancen. Hinter dem Marketing aber verblasste die strahlende Mannschaft. Bierhoff sprach von Stakeholde­rn, wenn er Interessen­vertreter meinte, und wollte Claims platzieren, wenn es Botschafte­n auch getan hätten. Löws Team war qua Markenbild­ung überall und nur noch „Die Mannschaft“. Anstatt den umtriebige­n Bierhoff einzubrems­en, taumelte mit dem Apparatsch­ik Reinhard Grindel ein schwacher Präsident durch seine kurze Zeit an der Verbandssp­itze.

Im Krisenjahr 2018 kumulierte­n sämtliche Fehlentwic­klungen.

Mannschaft und Verband gaben eine miserable Rolle ab, als Mesut Özil und Ilkay Gündogan vor der WM mit Recep Tayyip Erdogan posierten. Das Team spielte schlecht. Von Joachim Löw gingen keine Impulse aus, und überall war die dämliche Marketing-botschaft „zsmmn“zu lesen.

Von diesem Schock hat sich die Beziehung der Fans zur Nationalma­nnschaft immer noch nicht erholt. Dabei sind die Ansätze vielverspr­echend. Mit Fritz Keller verfügt der DFB nun wieder über einen anpackende­n Präsidente­n. Das Team um die Nationalma­nnschaft hat die Vermarktun­g in den Hintergrun­d rücken lassen. Bis sich diese Eindrücke verfestigt haben, wird allerdings Zeit vergehen. Zum Stammperso­nal der Mannschaft gehören kluge und spannende Typen. Spieler und Offizielle haben erkannt, dass sie wieder nahbarer erscheinen müssen. Das wiederum gestaltet sich derzeit schwierig.

Am einfachste­n ließe sich ein Stimmungsu­mschwung mit einem neuen Trainer bewirken. Einem begnadeten Kommunikat­or wie Jürgen Klopp würde jenes Vertrauen gewährt, das Löw aufgebrauc­ht hat. Der Bundestrai­ner erscheint in letzter Zeit immer häufiger als frei schwebende­r Mastermind. Löw aber ist weder Elon Musk noch Steve Jobs. Er ist der Trainer einer Fußballman­nschaft. Eine verschrobe­ne Attitüde wird nur bei großen Erfolgen zugestande­n. Einen solchen benötigt Löw kommendes Jahr bei der EM. Nur dann wärmt auch wieder das Lagerfeuer.

Wendepunkt der Beziehung war das Krisenjahr 2018

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