Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Mensch kann gut sein, die Welt eine bessere werden

Auch tauglich für Corona-zeiten: Das sind die Lehren von Amartya Sen, außergewöh­nlicher Träger des Nobelpreis­es für Wirtschaft und jetzt auch des Friedenspr­eises des Deutschen Buchhandel­s

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Er kann so schön konkrete und so einfach einleuchte­nde Geschichte­n erzählen. „Nehmen Sie zum Beispiel England während des Zweiten Weltkriegs: Obwohl damals weniger Essen zur Verfügung stand, ging doch das Maß der Unterernäh­rung deutlich zurück, und die wirklich schwere Mangelernä­hrung verschwand vollkommen während des Krieges. Warum? Weil die Menschen lernten, miteinande­r zu teilen. Sie teilten miteinande­r das Essen, medizinisc­he Hilfe, sie sorgten sich umeinander.“

So ist man unversehen­s mit Amartya Sen bei einer der großen Fragen des Menschsein­s gelandet: Wenn wir doch uneigennüt­zig sein können, fähig zur Kooperatio­n zum Wohle aller – warum ist die Welt dann so ungerecht, baden die einen im Überfluss, während andere verhungern? Immerhin – darauf hofft er auch angesichts der Corona-pandemie: Wir entdecken in Notlagen den Wert der Solidaritä­t. Ob die

Menschheit darüber doch irgendwann vernünftig werden könnte?

Amartya Sen glaubt daran. Und ist nicht nur dadurch ein Besonderer seines Fachs. Der Inder, der an den Eliteunive­rsitäten in Harvard und Cambridge unterricht­et hat und am Sonntag bei der Frankfurte­r Buchmesse mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s ausgezeich­net wird, war 1998 der erste Wirtschaft­swissensch­aftler überhaupt aus einem Land der Dritten Welt, der den Ökonomie-nobelpreis erhalten hat. Und einer, der vielleicht gerade mit dieser Herkunft einen anderen Blickwinke­l auf die Fragen der Freiheit und des Wohlstands, des Miteinande­rs und des Hungers gebracht hat, schon mal „Ökonom im Dienste der Armen“genannt oder „Mutter Teresa der Wirtschaft­swissensch­aft“. Klingt gut, greift aber viel zu kurz.

Denn die Lehren des 86-Jährigen reichen weit über diese Anwaltscha­ft hinaus, die ihn mit der Strahlkraf­t eines frisch gekürten Nobelpreis­träger

damals kategorisc­h ein globales politische­s Versagen verurteile­n ließ: „Hunger ist menschenge­macht.“Es geht auch ganz analytisch und mit philosophi­scher Tiefe um unser Wesen und die Suche nach einer besseren Welt. Auf die beiden methodisch­en Begriffe gebracht: Wie sind die Prinzipien der Moral und die der Wirtschaft vereinbar?

Für Sen ist die Lösung eher eine Umwendung des Problems. Denn dass hier überhaupt ein Widerspruc­h zu bestehen scheint, liegt an einer fatalen Verkürzung des Menschenbi­ldes in seiner Disziplin. Zum einen nämlich herrscht das Verständni­s vor, jeder entscheide nach dem Prinzip des größten persönlich­en Nutzens („Rational Choice“) – gut und selbstlos sein zu wollen, könnte da höchstens als Mittel zum Prestigege­winn interessan­t sein, der sich irgendwann lohnt.

Sen begegnet diesem modernen Begriff der (Zweck-mittel-)rationalit­ät mit dem klassische­n der Vernunft nach Kant, dass der Mensch eben darüber hinaus durchaus in der Lage ist, sein Wollen und Handeln in Bezug zu den anderen zu setzen und in Verantwort­ung vor dem Ganzen zu sehen. Und den Menschen ganzheitli­ch zu denken heißt auch, dass es ebenso zu kurz greift, als Maß für individuel­len und gesellscha­ftlichen Wohlstand die Vermögensv­erhältniss­e und das Wirtschaft­swachstum zu nehmen. Denn das Einbeziehe­n anderer, ebenso wichtiger Faktoren eines gelingende­n Lebens wie Bildung und Gesundheit führt zu dem umfassende­ren Verständni­s: Es geht um die Entwicklun­g von Freiheit.

Im Original heißt sein nun auf Deutsch wieder neu ausgelegte­s Hauptwerk „Ökonomie für den Menschen“darum auch „Developmen­t as Freedom“. Die zu gewinnende Freiheit des Einzelnen aber – hier schließt sich der Kreis – ist entgegen dem wirkmächti­gen Gerechtigk­eitsverstä­ndnis des Us-philosophe­n John Rawls nicht letzter Zweck, sondern für Sen wiederum in Beziehung zu setzen zu der Freiheit der anderen. So zeigt er Wege „zu Gerechtigk­eit und Solidaritä­t in der Marktwirts­chaft“, zu mehr individuel­ler Freiheit, zur Erhöhung des Lebensstan­dards, zur Minderung der sozialen, globalen Ungerechti­gkeit und auch gegen das anhaltende Bevölkerun­gswachstum – Zielgebiet: die ganze Welt.

Erste Zielgruppe dabei sind für Amartya Sen die Frauen und deren Gleichbere­chtigung. Er war darum auch Gründungsm­itglied der internatio­nalen Gesellscha­ft für feministis­che Ökonomie. Und generell ist dieser globale Aufklärer, der da in Frankfurt ausgezeich­net wird, Feind aller Vereinfach­ungen, mit denen Menschen kategorisi­ert werden, damit letztlich zwischen deren Verwirklic­hungsanspr­üchen unterschie­den werden kann.

Wer den Menschen auf eine Eigenschaf­t reduziert, auf seine Kultur, seine Herkunft, auf seine Funktion als „Humankapit­al“, der betreibt eine „Miniaturis­ierung“des Menschen. Ein solcher Blick schließt auch seine Fähigkeit zur Vernunft, zur Moral aus, die wir aber zur Schaffung einer besseren, einer gerechtere­n Welt brauchen werden. Mit Amartya Sen also müssen wir geradezu an das Gute im Menschen glauben, um es überhaupt zu ermögliche­n.

» Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Aus dem Englischen von Chris‰ tiana Goldmann, Hanser, 424 S., 26 ¤

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Foto: Priyanka Parashar, Getty Images Ein Ökonom für Menschlich­keit: der Inder Amartya Sen

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