Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Chinas Wirtschaft ist wieder in der Spur
Erst der harte Lockdown, jetzt wieder (fast) normales Leben: Warum das Reich der Mitte als einzige Volkswirtschaft weltweit das Krisenjahr 2020 vermutlich mit einem Plus abschließen kann. Und wie Europa vom Erfolg in Fernost profitieren will
Peking In Pekings Innenstadt zeigt sich symbolträchtig die neue Normalität in China: Dutzende Bagger und Kräne sind im Einsatz auf dem Gelände des alten Arbeiterstadions, um eine hochmoderne Fußballstätte für die Asien-meisterschaft im Jahr 2023 aus dem Boden zu stampfen. Nur einen Steinwurf entfernt strömen Kunden in den weltweit größten Adidas-laden im Einkaufsviertel Sanlitun. Und mittendrin lärmt der Wochentagsverkehr in der Zwölf-millionen-metropole wie eh und je: Lieferkuriere schlängeln sich auf E-rollern zwischen Menschenmengen hindurch, schwarze Limousinen stecken im Stau fest.
Der Eindruck einer brummenden Wirtschaft wird auch von den am Montag von der Regierung publizierten Quartalszahlen untermauert: Gut ein halbes Jahr nach dem Lockdown in der Volksrepublik ist die Wirtschaft im dritten Quartal um 4,9 Prozent gewachsen – und befindet sich damit wieder auf Vorkrisenniveau. Selbst wenn man den fast vollständigen Stillstand vom Frühjahr mit einrechnet, ist das Bruttoinlandsprodukt in den letzten neun Monaten bereits um 0,7 Prozent gestiegen. Chinas Erholung habe sich
und sei weniger auf Investionsstimuli angewiesen, heißt es in einer Analyse der Wirtschaftsforschungsberatung Capital Economics mit Sitz in London.
Ganz gleich welchen Parameter man heranzieht, die Stoßrichtung zeigt in Richtung V-förmiger Erholung: Die Exporte sind im September im Jahresvergleich um 9,9 Prozent angezogen, die Importe um 13,2 Prozent. Die Verkäufe im Einzelhandel stiegen um 3,3 Prozent, die Industrieproduktion um sechs Prozent. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird China als einzige Volkswirtschaft weltweit im Jahr 2020 mit 1,9 Prozent ein Plus verbuchen können. Zum Vergleich: Die Eurozone wird laut IWF um 4,3 Prozent schrumpfen, Deutschland um 6,0 Prozent.
Der ökonomische Erfolg im Reich der Mitte inmitten der Corona-krise lässt sich so erklären: Als eines der wenigen Länder hat China das Infektionsgeschehen seit Monaten auf nahezu null gedrosselt. Doch im Vergleich zu Taiwan oder Neuseeland, die die Pandemie ebenfalls überwunden haben, verfügt China über einen eigenen Markt von knapp 1,4 Milliarden Menschen. Damit ist es weitaus weniger anfällig für Einbrüche des internationalen
Handels.
Zu Jahresbeginn, als das Coronavirus noch unkontrolliert in der Provinz Hubei wütete, hatten die Behörden die weltweit wohl härtesten Maßnahmen verhängt, die die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung zutiefst beschnitten: Millionen standen über Monate wortwörtlich vor versiegelten Wohnungstüren und wurden ausschließlich von Nachverfestigt barschaftskomitees mit Lebensmitteln versorgt. Mit dem Stillstand der Wirtschaft gelang es der Regierung, das Infektionsgeschehen de facto auf Null zu drücken. Zugleich schloss die Volksrepublik ihre Landesgrenzen für Ausländer und verhängte strenge Quarantänemaßnahmen für Einreisende. Hunderttausende im Ausland gestrandete Chinesen mussten teils mehr als ein halbes Jahr warten, ehe sie zurückkehren durften – trotz negativer Covidtests. Dementsprechend historisch fiel der Wirtschaftseinbruch im ersten Quartal aus: Um 6,8 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt laut offiziellen Zahlen geschrumpft, so stark wie zuletzt gegen Ende der Kulturrevolution in den 1970er Jahren. Doch in der Folge konnte das Land, nun nahezu virusfrei, seine Wirtschaft ohne angezogene Handbremse wieder hochfahren: Schulen, Büros und Einkaufszentren sind seither wieder vollständig in Betrieb.
Die im April wieder öffnenden Fabriken litten zunächst unter der eingebrochenen Nachfrage aus dem Ausland, vor allem aus Europa. Doch systematisch passten sich chinesische Konzerne an die neue Situation an: Textilfabriken produzierten fortan Gesichtsmasken, dutzende Unternehmen kurbelten die Produktion von Desinfektionsmittel oder medizinischer Ausrüstung an.
Während die Industrieproduktion bereits seit Monaten auf Normalniveau läuft, zog der Binnenkonsum erst im Spätsommer wieder an: Das Vertrauen des Konsumenten kehrte erst allmählich zurück, nachdem das Infektionsrisiko über einen längeren Zeitraum gering blieb. Seither hat sich sogar der Tourismussektor erholen können.
Europa möchte vom Erfolg in China profitieren. Ein neues Abkommen ist geplant. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sieht bei den Verhandlungen zwischen der EU und China über ein Investitionsabkommen aber noch „große Brocken“auf dem Weg zu einer Einigung. Wichtig sei aber ein gleichberechtigter Zugang zu den Märkten. Kanzlerin Angela Merkel machte deutlich, sie sehe großes Potenzial in den Wirtschaftsbeziehungen mit asiatischen Ländern. Die Cdu-politikerin betonte in einer Videobotschaft aber, die Rahmenbedingungen dafür müssten verbessert werden. Dabei gehe es etwa um Gleichbehandlung und Transparenz, um Rechtssicherheit und den Schutz des geistigen Eigentums.
Die EU hatte im September von China weitreichende Zugeständnisse vor einem Abschluss der Verhandlungen über das Investitionsabkommen gefordert. Wenn es bis Ende des Jahres eine Einigung geben solle, müsse China bei den Themen Marktzugang und nachhaltige Entwicklung noch viel tun, sagte Eu-kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Gesprächen mit Chinas Präsident Xi Jinping. Die Verhandlungen laufen bereits seit mehr als sechs Jahren.