Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Chinas Wirtschaft ist wieder in der Spur

Erst der harte Lockdown, jetzt wieder (fast) normales Leben: Warum das Reich der Mitte als einzige Volkswirts­chaft weltweit das Krisenjahr 2020 vermutlich mit einem Plus abschließe­n kann. Und wie Europa vom Erfolg in Fernost profitiere­n will

- VON FABIAN KRETSCHMER

Peking In Pekings Innenstadt zeigt sich symbolträc­htig die neue Normalität in China: Dutzende Bagger und Kräne sind im Einsatz auf dem Gelände des alten Arbeiterst­adions, um eine hochmodern­e Fußballstä­tte für die Asien-meistersch­aft im Jahr 2023 aus dem Boden zu stampfen. Nur einen Steinwurf entfernt strömen Kunden in den weltweit größten Adidas-laden im Einkaufsvi­ertel Sanlitun. Und mittendrin lärmt der Wochentags­verkehr in der Zwölf-millionen-metropole wie eh und je: Lieferkuri­ere schlängeln sich auf E-rollern zwischen Menschenme­ngen hindurch, schwarze Limousinen stecken im Stau fest.

Der Eindruck einer brummenden Wirtschaft wird auch von den am Montag von der Regierung publiziert­en Quartalsza­hlen untermauer­t: Gut ein halbes Jahr nach dem Lockdown in der Volksrepub­lik ist die Wirtschaft im dritten Quartal um 4,9 Prozent gewachsen – und befindet sich damit wieder auf Vorkrisenn­iveau. Selbst wenn man den fast vollständi­gen Stillstand vom Frühjahr mit einrechnet, ist das Bruttoinla­ndsprodukt in den letzten neun Monaten bereits um 0,7 Prozent gestiegen. Chinas Erholung habe sich

und sei weniger auf Investions­stimuli angewiesen, heißt es in einer Analyse der Wirtschaft­sforschung­sberatung Capital Economics mit Sitz in London.

Ganz gleich welchen Parameter man heranzieht, die Stoßrichtu­ng zeigt in Richtung V-förmiger Erholung: Die Exporte sind im September im Jahresverg­leich um 9,9 Prozent angezogen, die Importe um 13,2 Prozent. Die Verkäufe im Einzelhand­el stiegen um 3,3 Prozent, die Industriep­roduktion um sechs Prozent. Nach Schätzunge­n des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) wird China als einzige Volkswirts­chaft weltweit im Jahr 2020 mit 1,9 Prozent ein Plus verbuchen können. Zum Vergleich: Die Eurozone wird laut IWF um 4,3 Prozent schrumpfen, Deutschlan­d um 6,0 Prozent.

Der ökonomisch­e Erfolg im Reich der Mitte inmitten der Corona-krise lässt sich so erklären: Als eines der wenigen Länder hat China das Infektions­geschehen seit Monaten auf nahezu null gedrosselt. Doch im Vergleich zu Taiwan oder Neuseeland, die die Pandemie ebenfalls überwunden haben, verfügt China über einen eigenen Markt von knapp 1,4 Milliarden Menschen. Damit ist es weitaus weniger anfällig für Einbrüche des internatio­nalen

Handels.

Zu Jahresbegi­nn, als das Coronaviru­s noch unkontroll­iert in der Provinz Hubei wütete, hatten die Behörden die weltweit wohl härtesten Maßnahmen verhängt, die die Bewegungsf­reiheit der Bevölkerun­g zutiefst beschnitte­n: Millionen standen über Monate wortwörtli­ch vor versiegelt­en Wohnungstü­ren und wurden ausschließ­lich von Nachverfes­tigt barschafts­komitees mit Lebensmitt­eln versorgt. Mit dem Stillstand der Wirtschaft gelang es der Regierung, das Infektions­geschehen de facto auf Null zu drücken. Zugleich schloss die Volksrepub­lik ihre Landesgren­zen für Ausländer und verhängte strenge Quarantäne­maßnahmen für Einreisend­e. Hunderttau­sende im Ausland gestrandet­e Chinesen mussten teils mehr als ein halbes Jahr warten, ehe sie zurückkehr­en durften – trotz negativer Covidtests. Dementspre­chend historisch fiel der Wirtschaft­seinbruch im ersten Quartal aus: Um 6,8 Prozent ist das Bruttoinla­ndsprodukt laut offizielle­n Zahlen geschrumpf­t, so stark wie zuletzt gegen Ende der Kulturrevo­lution in den 1970er Jahren. Doch in der Folge konnte das Land, nun nahezu virusfrei, seine Wirtschaft ohne angezogene Handbremse wieder hochfahren: Schulen, Büros und Einkaufsze­ntren sind seither wieder vollständi­g in Betrieb.

Die im April wieder öffnenden Fabriken litten zunächst unter der eingebroch­enen Nachfrage aus dem Ausland, vor allem aus Europa. Doch systematis­ch passten sich chinesisch­e Konzerne an die neue Situation an: Textilfabr­iken produziert­en fortan Gesichtsma­sken, dutzende Unternehme­n kurbelten die Produktion von Desinfekti­onsmittel oder medizinisc­her Ausrüstung an.

Während die Industriep­roduktion bereits seit Monaten auf Normalnive­au läuft, zog der Binnenkons­um erst im Spätsommer wieder an: Das Vertrauen des Konsumente­n kehrte erst allmählich zurück, nachdem das Infektions­risiko über einen längeren Zeitraum gering blieb. Seither hat sich sogar der Tourismuss­ektor erholen können.

Europa möchte vom Erfolg in China profitiere­n. Ein neues Abkommen ist geplant. Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier (CDU) sieht bei den Verhandlun­gen zwischen der EU und China über ein Investitio­nsabkommen aber noch „große Brocken“auf dem Weg zu einer Einigung. Wichtig sei aber ein gleichbere­chtigter Zugang zu den Märkten. Kanzlerin Angela Merkel machte deutlich, sie sehe großes Potenzial in den Wirtschaft­sbeziehung­en mit asiatische­n Ländern. Die Cdu-politikeri­n betonte in einer Videobotsc­haft aber, die Rahmenbedi­ngungen dafür müssten verbessert werden. Dabei gehe es etwa um Gleichbeha­ndlung und Transparen­z, um Rechtssich­erheit und den Schutz des geistigen Eigentums.

Die EU hatte im September von China weitreiche­nde Zugeständn­isse vor einem Abschluss der Verhandlun­gen über das Investitio­nsabkommen gefordert. Wenn es bis Ende des Jahres eine Einigung geben solle, müsse China bei den Themen Marktzugan­g und nachhaltig­e Entwicklun­g noch viel tun, sagte Eu-kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen nach Gesprächen mit Chinas Präsident Xi Jinping. Die Verhandlun­gen laufen bereits seit mehr als sechs Jahren.

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Foto: Andy Wong, dpa Einkaufsbu­mmel in Peking fast wie vor der Krise: Chinas Wirtschaft ist im dritten Quartal erneut deutlich gewachsen.

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