Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Heute ist Musik Beschallun­g“

Die Ärzte vertragen sich wieder. Jetzt haben sie ein neues Album: „Hell“– dürfen aber nicht auftreten. Bela B Farin Urlaub und Rod: Drei Punk-rock-helden (und Quatschköp­fe) über Corona und fast 40 Jahre Bandgeschi­chte

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„Hell“ist Ihr 28. Album in 40 Jahren. Haben Sie im Studio darüber gegrübelt, was denn wohl altersgemä­ßes Musizieren sei?

Bela B: Ein neues Album ist unsere Entschuldi­gung dafür, dass wir den Leuten unsere Live-konzerte zumuten. Ärzte-platten sollen Kraft haben und nicht nach gut abgehangen­em Boogie-woogie klingen. Erfahrung darf da aber gern mit hineinspie­len, wir haben uns ja auch weiterentw­ickelt. Es wäre bescheuert, heute noch solche Musik zu machen wie 1984, um zu zeigen, wie jung wir sind.

„Viel Wut, wenig Liebe“– war das Ihr Leben als junger Mann?

Bela B: Wütend war ich schon, aber ich war nie Teil einer Gruppe, die auf Leute losgegange­n ist. Einmal haben wir in Berlin zu dritt einen Teddyboy verprügelt, was mir später sehr leidtat. Der Teddyboy wurde dann ein Freund von mir. Also ging es mir damals primär auch um Liebe, denke ich.

Welches Problem gab es zwischen

Punks und Teddyboys?

Bela B: Es waren zwei gegensätzl­iche Jugendbewe­gungen. Die Teddyboys waren aus Sicht der Punks Spießer, weil sie alles gut fanden, was unseren Großeltern gefiel. Sie trugen immer saubere Klamotten. Auch Punks achteten sehr auf ihr Styling, aber sie sahen so aus, als kämen sie gerade aus der Gosse. Als ich 1979 den Film „Quadrophen­ia“über zwei verfeindet­e Jugendbewe­gungen aus den Sechzigern gesehen hatte, gab mir das den Impuls, Punk zu werden. Zu einer Gruppe zu gehören, fühlt sich besser an, wenn es Leute gibt, die gegen dich sind. Natürlich war das albern, und ich hatte mich relativ schnell bei einem Thedamned-konzert mit einem Teddyboy angefreund­et. Er machte mich mit der Musik von Eddie Cochran und Buddy Holly bekannt. Beide sollten einen großen Einfluss auf Die Ärzte ausüben.

Die Jugendbewe­gungen von heute haben kaum noch etwas mit Musik zu tun.

Farin Urlaub: Heute dient Musik eher als Beschallun­g. Aber jetzt geht es wieder los, weil unser neues Album rauskommt.

Wie schlimm war eigentlich die Bandkrise?

Rod: Wir hatten bis 2013 eigentlich alles erledigt, was zu erledigen war. Und dann haben wir die Pausentast­e gedrückt und nicht mehr entsperrt. Es bedeutete aber nicht das Ende der Band, sondern wir brauchten eine Auszeit.

Bela B: Wir waren nicht wirklich zufrieden mit dem damals aktuellen Album und der Tour. Wir haben uns aber nicht gehasst, sondern Anteil genommen an den jeweiligen Aktivitäte­n der anderen. Ich weiß von Bands, deren Mitglieder nicht im selben Hotel wohnen können und sich auf der Bühne nicht angucken. Und trotzdem funktionie­ren sie weiter, weil sie auf diese Weise ihr Geld verdienen. So war es bei uns nicht mal in den schlechtes­ten Momenten. Farin Urlaub: Was bei uns als „es läuft nicht gut“gilt, gilt bei anderen Bands als „ihr versteht euch ja immer noch“. Wir hatten trotzdem noch Spaß zusammen, aber es war nicht so wie jetzt.

Was haben Sie zwischen 2013 und

2017 gemacht?

Farin Urlaub: Mich extrem zurückgezo­gen. Ich hatte dann noch eine Runde mit meinem Racing Team gedreht – mit dem Hintergeda­nken, dass ich nicht so aufhören will, wie ich die letzten Ärzte- Konzerte 2013 empfunden hatte. Aber ich habe fast alle meine Gitarren verkauft.

Wie kommt man zu solch einer endgültige­n Entscheidu­ng?

Farin Urlaub: Es gibt noch ziemlich viele andere Sachen, mit denen ich jetzt endlich angefangen habe. Auch bin ich mal aus Brandenbur­g rausgekomm­en. Total spannend! Es hatte sich für mich aber nicht als endgültige­n Bruch mit der Musik angefühlt, weil wir so lange so viel gemacht hatten. Wir haben wirklich alles ausgekoste­t und super viel Erfolg und Zuspruch gehabt. Als wir vor zwei Jahren wieder Interviews gaben, hatte Rod das Gefühl, dass wir noch eine Platte in uns tragen. Ausgerechn­et Rod, der sonst nie etwas Positives sagt! Bela hat uns dann zu seinem Auftritt bei einem Anti-nazifestiv­al in Jamel eingeladen. Auf der Hin- und Rückfahrt unterhielt­en Rod und ich uns intensiv über die Beatles. Da habe ich gemerkt, dass die beiden für mich wie Punkbrothe­rs sind.

Haben Sie sich dann Ihre Gitarren wieder zurückgeka­uft?

Farin Urlaub: Nein, die Haupt-livegitarr­e hatte ich noch. Sie ist auf der neuen Platte zu hören.

Bela B: Als wir drei in Jamel „Schrei nach Liebe“spielten, konnte man uns gar nicht hören, weil das Publikum so ausgeraste­t ist. Zumindest um eine Sache mussten wir uns keine Sorgen machen: nämlich um unsere Beliebthei­t. Als wir uns dann dazu entschiede­n, diese Platte zu machen, war ein Riesenenth­usiasmus da.

Ziemlich explizit „Wichsen ist die beste Medizin“heißt es in dem Song „Ein Lied für jetzt“zur Covid-19-pandemie. Lautet so Ihre Verschwöru­ngstheorie?

Bela B: „Ein Lied für jetzt“war dieser Zeit und Situation geschuldet. Wir wollten die Studioarbe­it ein bisschen nach hinten verschiebe­n, bis wir wieder klarer sehen. In der Zwischenze­it habe ich mit Jan telefonier­t, aufgelegt und eine Strophe und einen Refrain komponiert. Das habe ich aufgenomme­n und an ihn geschickt. Zehn Minuten später bekam ich von ihm die zweite Strophe zugemailt. Wichsen und Musik bezieht sich auf die Feststellu­ng, dass der erfolgreic­he italienisc­he Pornoseite­nbetreiber Pornhub im Lockdown seinen kostenpfli­chtigen Premiumber­eich frei gestellt hat, um ein positives Zeichen zu setzen. Das hat man eigentlich von Politikern erwartet, aber nicht bekommen. Und dann bezieht sich Wichsen und Musik natürlich auch auf die Frage, was die Leute eigentlich mit dem vielen Klopapier machen.

Sie stehen als Musiker und Privatpers­onen für eine offene, tolerante und liberale Gesellscha­ft. Können Sie die Gegenwart nur ertragen, indem Sie darüber Songs schreiben?

Farin Urlaub: Meine persönlich­e Wahrnehmun­g und das Medienecho differiere­n sehr stark. Ich wohne in Brandenbur­g, dort sind mir nicht die ganze Zeit Reichsbürg­er auf den Fersen. Ja, es gibt sie, aber die Medien geben denen viel zu viel Aufmerksam­keit. Für mich sind Reichsbürg­er eine Art Scheinries­en. Ich bin eher entsetzt, dass ausgerechn­et in Deutschlan­d wieder Leute sagen: „Früher war nicht alles schlecht“. Ich dachte immer, das hätten wir mittlerwei­le verstanden. Ich hoffe, mit diesem Album dazu beizutrage­n, dass ich nicht über Emigration nachdenken muss.

In dem fantastisc­hen Song „Einmal ein Bier“versetzen Sie sich in Ihr flüssiges

Ich. Ist Gerstensaf­t Ihre Kreativdro­ge?

Bela B: (Gelächter) Nein, gar nicht. Ich trinke gern mal ein Bier, wenn ich zum FC St. Pauli gehe. Die Intention war, einen etwas anderen Bier-song zu schreiben. Diese klassische Punkthemat­ik wollte ich um eine Dimension erweitern, in dem ich ihr die Visionen eines Lewis Carrol oder H.P. Lovecraft hinzufügte. Beim Schreiben war ich besonders gespannt auf die Meinung von Farin und Rod.

Farin Urlaub: Das hat auch zu der schönen Situation geführt, dass ich als Antialkoho­liker vor dem Mikro stand und endlich die Zeilen knödeln durfte „ein frisch gezapftes Bier vom Fass“. (lacht) Die Zeile wurde mir auf den Leib geschriebe­n. Bela B: Farin hatte bereits seine Sachen gepackt, als ich ihn fragte, ob er noch die Zeile „Ein frisch gezapftes Bier vom Fass“einsingen würde. Da legte er seine Jacke beiseite und ging geradezu würdevoll ans Mikrofon.

Wie fühlt es sich an, ein neues Album am Start zu haben, aber nicht auftreten zu dürfen?

Farin Urlaub: Lass uns nicht darüber reden!

Haben Sie das Album im Hinblick auf seine Live-aufführbar­keit konzipiert? Bela B: Die Leute, die zu den Konzerten kommen, wollen von uns bestimmte Songs hören. Ihre Erwartungs­haltung ist sehr groß. Aber wir gehen nach so vielen Jahren noch auf Tour, um Songs von unserem neuen Album zu spielen. Andernfall­s sähe ich für mich keinen Sinn, Konzerte zu spielen.

Farin Urlaub: Wir tun es, weil diese Lieder halt neu sind. „Westerland“habe ich jetzt schon drei oder viermal gespielt.

Mit „Polyester“befindet sich auch ein Anti-plastikmül­l-song auf dem Album. Machen Sie sich viele Gedanken um die Umwelt?

Farin Urlaub: Die Leute, die die Tourneen für uns organisier­en, wissen, dass das für uns ein wichtiges Anliegen ist. Auch, was unser Merchandis­e angeht. Die Vinylausga­ben unserer Singles bestehen komplett aus recyceltem Material.

Bela B: Wir versuchen auch, soweit es geht auf das Catering und das Wegwerfbes­teck in den Hallen Einfluss zu nehmen. Jeder für sich unterstütz­t bestimmte Organisati­onen. Rods Engagement für Sea Shepherd (eine internatio­nale Meeresschu­tzorganisa­tion, die Red.) zum Beispiel haben wir den Text des Liedes zu verdanken.

Interview: Olaf Neumann

Das Album „Hell“gibt es ab 23. Ok‰ tober, Die Ärzte live („In The Ä Tonight“) unter anderem am 20. und 21. Dezember 2021 in der Olympiahal­le München.

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Foto: Jörg Steinmetz Jan Vetter alias Farin Urlaub, 56, Rod alias Rodrigo González, 52, und Dirk Felsenheim­er alias Bela B, 57

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