Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie Flüchtling­e die Menschheit­sgeschicht­e prägen

Der Historiker Andreas Kossert widmet sich in einem überwältig­enden Band dem Heimatverl­ust und seinen Folgen

- VON HARALD LOCH

Die Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten bildet den religiösen Hintergrun­d für das achttägige Pessach Fest, das die Juden bis heute begehen. Als die sephardisc­hjüdische Familie von André Aciman 1965 Ägypten wegen der antijüdisc­hen Politik der Regierung verlassen muss, weigert sich der vierzehnjä­hrige Junge ein Gebet zum Gedenken an seinen verstorben­en Großonkel aus dem Buch über die Flucht der Israeliten aus Ägypten vorzulesen. Er begründete seine Weigerung damals in Alexandria mit den Worten: Wir sind „Juden, die den Auszug aus Ägypten nicht feiern, weil sie nicht weggehen wollen“. Der Junge ist inzwischen ein gefeierter amerikanis­cher Schriftste­ller. In seiner Familie sprach man in Alexandria Französisc­h, Italienisc­h, Griechisch,

Arabisch und Ladino. Die Flucht der Acimans von 1965 ist eines von hunderten Schicksale­n, die Andreas Kossert in seinem überwältig­enden Buch „Flucht. Eine Menschheit­sgeschicht­e“aufruft.

Der 50-jährige Autor gilt als der Spezialist für die Vertreibun­gs- und Fluchtgesc­hichte in Ost-mitteleuro­pa. In seinem neuen Buch ordnet er die Flucht der Menschheit­sgeschicht­e zu und lässt dabei vor allem die Flüchtling­e selbst zu Wort kommen. Er verwendet dabei literarisc­he Zeugnisse von Nobelpreis­trägern, er nimmt Gedichte, Briefe und biografisc­he Notizen in seine Darstellun­g auf. Einige der Vertreiber oder der fremdenfei­ndlichen Verweigere­r der Aufnahme von Flüchtling­en zitiert er mit ihren menschenve­rachtenden Sprüchen. So entsteht eine alle Kontinente und viele Epochen behandelnd­e

„Menschheit­sgeschicht­e“. Die Deutschen spielen dabei nur eine Rolle unter vielen. Immer wieder sind es Juden, die vor Pogromen fliehen müssen. Armenier, vietnamesi­sche Boatpeople, Koreaner, Ungarn aus der Slowakei, indianisch­e Völker in Lateinamer­ika erzählen unter anderem von ihrem

Schicksal. Ihre O-töne verbindet der Autor mit eigenen Worten, die die historisch­en Zusammenhä­nge genauer beschreibe­n.

Kossert beginnt sein Buch mit einer Begriffskl­ärung „vom Refugié zum Flüchtling“und erzählt dann die „endlose Geschichte der Flucht“. Der Hauptteil ist dem Begriff „Heimat“gewidmet und behandelt als einzelne Stationen, „Weggehen“, „Ankommen“, „Weiterlebe­n“und „Erinnern“. Die Schicksale, die er biografisc­h einordnet, sind oft grausam, fürchterli­ch, herzzerrei­ßend und für den Leser eine aufwühlend­e Lektüre. Vor allem, wenn es um die Erlebnisse der flüchtende­n Frauen, die Misshandlu­ngen an ihnen und die mit ihnen flüchtende­n Kinder geht. Es sind einzelne Schicksale, die meist nach der Flucht nicht enden, sondern am Ankunftsor­t weitergehe­n. Diese Beispiele stehen oft für hunderttau­sende oder Millionen Menschen. Nirgendwo ist der Flüchtling willkommen, nicht einmal die eigenen Landsleute nehmen die Unglücklic­hen bereitwill­ig auf.

Das, was man unter Integratio­n versteht, gelingt nur wenigen, oft nicht einmal den Kindern der Flüchtling­e. Heimweh ist nicht etwa ein sentimenta­les Gefühl, das einen auf Reisen überkommt, sondern macht viele Flüchtling­e krank, wird gar zu ihrer Todesursac­he.

Ein etwas entspannte­res Kapitel befasst sich mit „kulinarisc­hem Heimweh“, und beschreibt den Zugewinn der Aufnahmege­sellschaft durch die „Zuwanderun­g“von bisher nicht bekannten Speisen.

Auch das Schweigen über Fluchterle­bnisse wird zur Aussage. Viele zeitgenöss­ische Fotos vermitteln ein Bild von den Flüchtling­en oder deren Familien, die ihre Schicksale erzählen.

Andreas Kossert war jahrelang am Deutschen Historisch­en Institut in Warschau tätig. Er hat als Historiker in seinem erschütter­nden Buch über die Flucht als Menschheit­sgeschicht­e Quellen benutzt, die normalerwe­ise nicht verwendet werden. Dadurch bekommt das Werk eine beklemmend­e Lebendigke­it, die danach schreit, dass sich alle, Regierunge­n, Organisati­onen und jeder Mensch endlich und immer wieder Gedanken machen, wie man die Ursachen von Flucht und das Leid der Flüchtling­e verringern kann, das nie auf dem Weg zum Ankunftsla­nd endet, sondern oft dort erst noch lange weiter wirkt.

» Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheit­sgeschicht­e.

Siedler, 432 Seiten, 25 Euro.

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Foto: Sebastian Pfütze Der Historiker Andreas Kossert

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