Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Und plötzlich erwachsen

Soziales Zehntausen­de Jugendlich­e in Bayern pflegen Angehörige und müssen dadurch selbst zurückstec­ken. Eine 16-Jährige erzählt, was das mit ihr und anderen Betroffene­n macht

- VON TOM TRILGES

München Lana Rebhan durfte nur acht Jahre lang Kind sein. Die Hälfte ihres Lebens ist sie schon erwachsen – heute ist sie 16 Jahre alt und kümmert sich seit acht Jahren um ihren schwer kranken Vater. Ihre Mutter hält die Familie aus dem unterfränk­ischen Bad Königshofe­n mit zwei Jobs finanziell über Wasser. „Herzinfark­te, Schlaganfä­lle, Koma. Ich habe fast alles mitgemacht, was man sich so vorstellen kann“, sagt Lana Rebhan. Mit ihrem Schicksal ist sie nicht allein, aber fühlt sich doch oft allein gelassen.

35 400 Jugendlich­e in Bayern sind sogenannte „Young Carer“. Darunter versteht man Minderjähr­ige, die den Alltag daheim bereits organisier­en müssen, weil sie sich dort um einen kranken Angehörige­n, meist die eigenen Eltern, kümmern. Bundesweit liegt die Zahl nach einer Schätzung des Gesundheit­sministeri­ums bei knapp einer halben Million Betroffene­r. Lana Rebhan sagt: „Ich habe damals nicht die Hilfe gefunden, die ich gebraucht hätte.“Sie brach nach der achten Klasse die Schule ab und investiert­e ihre ganze Kraft in das Wohl des Vaters.

Irgendwann reifte in ihr die Erkenntnis: So kann es nicht weitergehe­n. Sie gründete die Plattform „young-carers.de“, auf der sich Jugendlich­e mit dem gleichen Problem austausche­n und nach Hilfe suchen können. Lana Rebhan holte zudem ihren Schulabsch­luss nach und macht jetzt eine Ausbildung. „Ich weiß aber: Nicht jeder hat die Kraft dazu“, sagt sie. Viele Betroffene verfallen in Sucht oder Depression­en, einige versuchen, sich das Leben zu nehmen. Die 16-Jährige schildert den Fall einer anderen Jugendlich­en, die einen Angehörige­n pflegen musste: „Sie hat sich geritzt und beging einen Suizidvers­uch. Als sie wieder in der Schule war, musste sie jedem einzelnen Lehrer berichten, was mit ihr los war.“

Aus einer Befragung entspreche­nder Beratungss­tellen ging laut Lana Rebhan hervor: Zwei Drittel von ihnen sind nicht im Bilde über das Phänomen der „Young Carer“und haben keine passenden Ansätze, sie zu unterstütz­en. Die Landtagsgr­ünen möchten die „Young Carer“daher jetzt auf die politische Agenda setzen und luden Lana Rebhan zu einer Pressekonf­erenz ein. Bei dieser äußerte sich auch Ralph Knüttel von der Johanniter-unfall-hilfe Unterfrank­en. Er sieht ebenfalls strukturel­le Mängel: „Diese Gruppe muss dringend eine Stimme bekommen.“Knüttel spricht sich für eine Sensibilis­ierung der Pflegebera­ter für das Thema aus. „Man muss auch in der Schule ansetzen, Young Carer im Sozialkund­eunterrich­t berücksich­tigen und ihnen Ansprechpa­rtner geben“, sagt Knüttel. An einer weiteren Stelle sieht er Handlungsb­edarf. Laut Gesetz dürfen nur Kindern und Jugendlich­en unter zwölf Jahren Haushaltsh­ilfen zugewiesen werden. Diese Grenze müsse auf 16 Jahre hochgesetz­t werden.

Knüttel betreut mit „Superhands“ein Projekt, das im Internet Informatio­nen für Betroffene liefert. Darüber hinaus steht eine ehrenamtli­ch betriebene Hotline zur Verfügung. „Die nutzen zugegebene­rmaßen nicht so viele Jugendlich­e“, sagt Knüttel. „Young Carer“müssen seiner Meinung nach in Gesellscha­ft und Politik präsenter werden. Darin stimmt er mit Lana Rebhan überein. Sie sagt: „Ich habe mich 2018 an die Landtagsab­geordneten in Bayern gewandt. Bis heute ist nichts passiert.“Die Grünen möchten nun mehrere Anträge einbringen, um die Situation für Young Carer in Bayern zu verbessern.

 ?? Symbolfoto: Gero Breloer, dpa ?? Gerade, wenn ein Elternteil stirbt oder krank wird, müssen Kinder oftmals mit einem Schlag mehr Verantwort­ung in der Familie übernehmen. Viele meistern das mit Bravour, viele kommen damit aber auch an ihre Grenzen.
Symbolfoto: Gero Breloer, dpa Gerade, wenn ein Elternteil stirbt oder krank wird, müssen Kinder oftmals mit einem Schlag mehr Verantwort­ung in der Familie übernehmen. Viele meistern das mit Bravour, viele kommen damit aber auch an ihre Grenzen.
 ??  ?? Lana Rebhan
Lana Rebhan

Newspapers in German

Newspapers from Germany