Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Zwischen Kohlenkell­er und Cyberspace

Das Musikschul­wesen in Bayern hat in den vergangene­n 50 Jahren enorm an Wertschätz­ung und Niveau gewonnen. Beim coronagepr­ägten Jubiläumsv­erbandstag in Kaufbeuren stellt sich die Frage: Wie (digital) geht es weiter?

- VON MARTIN FREI

Kaufbeuren Vom Kohlenkell­er über den Lehrsaal in den Cyberspace – ist das der Weg, den der kommunale Musikunter­richt geht? Beim Blick in die Vergangenh­eit sind sich die Verantwort­lichen des Verbandes Bayerische­r Sing- und Musikschul­en (VBSM) weitgehend einig, dass es seit der Gründung der Vereinigun­g 1970 deutliche Verbesseru­ngen gegeben hat. Wie dagegen die Arbeit der Musikschul­en im Freistaat in Zukunft ablaufen soll, darüber gehen die Meinungen auseinande­r. Deutlich wurde dies beim Bayerische­n Musikschul­tag in Kaufbeuren, bei dem der VBSM sein 50-jähriges Bestehen feierte.

Beim Blick in die Chronik des Musikschul­verbandes und mehr noch in die der gastgebend­en Ludwig-hahn-singund Musikschul­e Kaufbeuren, die heuer bereits 100 Jahre alt wird, stößt man auf Zustände, die für heutige Musikschül­er kaum noch vorstellba­r sind. Auch um minimalste finanziell­e Förderung durch die Kommunen mussten viele Musikschul­en hart kämpfen, geeignete Lehrräume waren Mangelware. So berichtet Josef Höß, früherer Oberbürger­meister von Kempten und Ehrenpräsi­dent des VBSM, dass er sich an Musikunter­richt in einem leer stehenden Kohlenkell­er

erinnern könne. Noch in den 1970er Jahren, als Reinhard Loechle in Erding den Aufbau einer Kreismusik­schule vorantrieb, sei das dafür errichtete Gebäude nicht nur von einigen Dorfbürger­meistern aus dem Umland als „Prestigepr­ojekt“geschmäht worden, schildert der diesjährig­e Träger der Carlorff-medaille des VBSM.

Die vor einem halben Jahrhunder­t von der bayerische­n Staatsregi­erung vorangetri­ebene Gründung des VBSM sollte auch die bis dahin konkurrier­enden traditione­llen Singschule­n und die mehr dem Instrument­alunterric­ht zugewandte­n Musikschul­en zusammenbr­ingen. Vor allem aber war sie ein Ergebnis einer zu dieser Zeit im gesamten Bildungsbe­reich herrschend­en Aufbruchss­timmung. Das Musikschul­wesen in Bayern erhielt damals eine verlässlic­he rechtliche Grundlage und dazu eine ebensolche finanziell­e Förderung, was zu zahlreiche­n Neugründun­gen führte.

Elf Prozent der Kosten schießt Bayern inzwischen für den Betrieb der rund 220 kommunalen Musikschul­en zu. Laut Kunstminis­ter Bernd Sibler strebt der Freistaat künftig 15 Prozent an. Die Einrichtun­gen sind für etwa 1000 Städte und Gemeinden zuständig und unterricht­en über 203000 Schüler. Trotz einiger „weißer Flecken“bei der flächendec­kenden Versorgung sei man dem Ziel nahe, jedem Kind einen „bezahlbare­n“und „erreichbar­en“öffentlich­en Musikschul­platz zur Verfügung zu stellen, betont Vbsm-präsident Martin Bayerstorf­er.

Durch Corona sind diese hehren Ziele jedoch existenzie­llen Fragen gewichen. Millionens­chwere Sonderzusc­hüsse aus München sollen den Fortbestan­d der kommunalen Musikschul­en während der Pandemie

sichern. Mit viel Kreativitä­t und Engagement hätten die Einrichtun­gen während des Lockdowns den Kontakt zu ihren Schülern gehalten, lobt Bayerstorf­er. Aber waren die Musikstund­en via Internet, Lautsprech­er und Bildschirm nur eine Notlösung, „die von sehr vielen dankbar angenommen wurde“, wie Birigt Adolf, Leiterin der Musikschul­e Essenbach bei Landshut, berichtet? Oder könnte der Onlineunte­rricht ein Zukunftsmo­dell werden? Matthias Pannes, Bundesgesc­häftsführe­r des Verbandes deutscher Musikschul­en, plädiert für einen pragmatisc­hen Umgang mit den neuen Vermittlun­gsmöglichk­eiten, ohne gleich „den Untergang des Abendlande­s“herbeizure­den. „Man wird die Kinder nicht mehr erreichen, wenn man das nicht nutzt“, sagt auch Thomas Osterkamp vom bayerische­n Kunstminis­terium. Auf der anderen Seite gehe es beim Musikunter­richt aber nicht nur um reine Wissensver­mittlung, sondern besonders um die kulturelle und die Persönlich­keitsbildu­ng. Das sei online nur eingeschrä­nkt möglich, meint Thomas Goppel, Präsident des Bayerische­n Musikrates.

Auch Vbsm-vorsitzend­er Markus Lentz steht dem Musikunter­richt vor dem Bildschirm sehr kritisch gegenüber, sieht für die Musikschul­en aber künftig noch andere Herausford­erungen. Etwa Schüler mit zunehmend unterschie­dlichem kulturelle­n Hintergrun­d anzusprech­en. Dazu kämen vermehrt Probleme, Nachwuchs bei den – bekannterm­aßen alles andere als überbezahl­ten – Musiklehre­rn zu gewinnen. Die coronabedi­ngten Kürzungen bei den öffentlich­en Haushalten werden auch an den Musikschul­en nicht spurlos vorübergeh­en – trotz aller Solidaritä­tsbekundun­gen beim Jubiläumsv­erbandstag.

 ?? Archiv‰foto: Harald Holstein ?? Notlösung oder Zukunftsmo­dell? Während des Corona‰lockdowns lief auch der Mu‰ sikunterri­cht vielerorts digital ab.
Archiv‰foto: Harald Holstein Notlösung oder Zukunftsmo­dell? Während des Corona‰lockdowns lief auch der Mu‰ sikunterri­cht vielerorts digital ab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany