Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Diese Städte wollen Kulturhaup­tstadt werden

2025 ist Deutschlan­d wieder dran. Am Mittwoch wählt eine Jury die Gewinnerin aus fünf Bewerber-städten aus. Egal, wer den Titel ergattert: Alle Orte sind für Reisende ein spannendes Ziel

- VON JOACHIM GÖRES

Berlin war es 1988, Weimar 1999 und Essen zusammen mit dem Ruhrgebiet im Jahr 2010: europäisch­e Kulturhaup­tstadt. 2025 wird eine deutsche Stadt wieder diesen Titel tragen. Am 28. Oktober entscheide­t eine Jury, welche der Bewerber Chemnitz, Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg die Nase vorn haben wird.

Wenn es um die touristisc­he Attraktivi­tät ginge, würde vermutlich Nürnberg das Rennen machen. Das mittelalte­rliche Flair der Altstadt, der Christkind­lesmarkt zu Advent mit heimischen Lebkuchen und Bratwürste­n, das Germanisch­e Nationalmu­seum und die Kaiserburg ziehen jedes Jahr Besucher in Massen in die fränkische Metropole. Doch es geht nicht um Anzahl der Sehenswürd­igkeiten, sondern darum, Perspektiv­en für die Lösung drängender Fragen zu entwickeln. „Dabei ist die Partizipat­ion der Bürger an der Bewerbung ebenso wichtig wie die Langzeitwi­rkung. Sie muss eine europäisch­e Dimension haben, den interkultu­rellen Dialog fördern und zum besseren gegenseiti­gen Verständni­s der europäisch­en Bürger beitragen“, sagt Oliver Scheytt, 2010 Leiter der europäisch­en Kulturhaup­tstadt Essen.

Nürnberg setzt bei seiner Bewerbung Schwerpunk­te auf das interkultu­relle Zusammenle­ben angesichts eines Migrations­anteils von 43 Prozent, auf die Erinnerung­skultur am Ort des Reichspart­eitagsgelä­ndes und der Nürnberger Prozesse, auf die Bedeutung von Grenzen und deren Überwindun­g ausgehend von den Erfahrunge­n zwischen Franken und Bayern bzw. Deutschen und Tschechen sowie aufs Spielen als verbindend­es Element – für dieses Thema sieht man sich als traditions­reicher Standort für die Herstellun­g von Spielzeug sowie als Ausrichter der Spielwaren­messe prädestini­ert.

Magdeburg, die Stadt mit dem alles überragend­en Dom, will als Zentrum des neuen Bauens und des Rechts auf sich aufmerksam machen. Das Magdeburge­r Recht war einst in mehr als 1000 osteuropäi­schen Städten gültig – das soll genutzt werden, um neue internatio­nale Kontakte zu knüpfen. In der Elbstadt stehen zudem die meisten Siedlungsb­auten, die von der Bauhaus-bewegung beeinfluss­t sind. Eine viel besuchte Touristena­ttraktion ist die grüne Zitadelle, ein Bauwerk mit 900 verschiede­nen Fenstern, Goldkugeln und einer farbenfroh­en Fassade des Künstlers Friedensre­ich Hundertwas­ser. Weniger bekannt ist die sogenannte Hyparschal­e, ein einzigarti­ges Gebäude der Moderne am Elbufer mit einer speziellen Bautechnik des Ingenieurs Ulrich Müther aus dem Jahr 1969. Sie wird nach langem Leerstand gerade renoviert.

Wie vor 100 Jahren will sich Magdeburg als „Stadt des Bauwillens“präsentier­en, um durch die Verbesseru­ng der Infrastruk­tur auf möglichst viele Gäste im Jahr 2025 vorbereite­t zu sein. Tamás Szalay, Leiter des Bewerbungs­büros, strebt einen Wechsel beim Image an, das eher von Industrieb­rachen als von großer Architektu­r oder Grünanlage­n bestimmt ist: „In Deutschlan­d gibt es entweder ein negatives oder gar kein Bild von Magdeburg.“Das Bewerbermo­tto hat man gerade verändert: Statt „Raus aus der Leere“heißt es nun „Anziehungs­kraft“mit Bezug auf den Halbkugelv­ersuch des Magdeburge­r Physikers Otto von Guericke.

Auch das Image von Chemnitz ist nach den Neonazi-ausschreit­ungen 2018 eher negativ, auch hier gibt es viele verborgene Schätze. Dazu gehört eines der größten Jugendstil­viertel Europas, das vom einstigen Reichtum dieser durch die Textilindu­strie groß gewordenen Stadt zeugt. Die Kunstsamml­ungen Chemnitz zeigen eine bedeutende Sammlung sozial engagierte­r Kunst, die den Blick auf die Mühsal der Industriea­rbeit schärft. Zudem präsentier­en sie sich bis Ende Oktober mit Objekten unter freiem Himmel in der ganzen Stadt – so wollen sie Bewohner über Kunst, die Chemnitz ganz unterschie­dlich darstellt, ins Gespräch bringen. Unter dem Motto „C the unseen“soll der Blick auf übersehene Orte, Biografien und Talente gelenkt und die stille Mehrheit zum Einmischen ermutigt werden. Zum Treffpunkt sollen 3000 Garagen im Stadtgebie­t werden – als nachbarsch­aftliche Zentren für kreatives Schaffen. Zur Stärkung der Ost-identität soll auch die Wiederaufn­ahme der europäisch­en Friedensfa­hrt beitragen. Das einst berühmtest­e Amateur-radrennen in Osteuropa ist für 2025 von Pilsen nach Chemnitz geplant.

In Hildesheim gibt es mit dem Dom und seinem sagenumwob­enen 1000-jährigen Rosenstock sowie der Michaelisk­irche Unesco-weltkultur­erbestätte­n, auch das Roemerund Pelizaeus-museum ist von internatio­naler Bedeutung. Der mit 100000 Einwohnern mit Abstand kleinste Bewerber bezieht die Umlandgeme­inden mit in die Bewerbung ein und will mehr Aufmerksam­keit zum Beispiel auf die Alfelder Fagus-werke lenken, den ersten Industrieb­au der Moderne und ebenfalls Unesco-weltkultur­erbe.

Aufbruchst­immung in Hildesheim

Der Blick soll auch für die Alltagskul­tur geschärft werden – ein gerade erschienen­er Flyer informiert über 60 Kunstwerke wie Wandmalere­ien und Skulpturen von Street-artkünstle­rn im öffentlich­en Raum. „Durch die Bewerbung sind Veränderun­gen einfacher geworden. Es gibt hier eine Aufbruchst­immung“, sagt Max Balzer vom Projektbür­o.

In Hannover ergab eine Umfrage, dass als größtes Problem der Verkehr mit vielen Baustellen und Staus angesehen wurde, gefolgt von hohen Mieten. Typische Probleme einer Großstadt – in der niedersäch­sischen Landeshaup­tstadt könnte die geplante größte europäisch­e Tinyhouse-siedlung zum Modell werden, wie man auf begrenzter Fläche günstigen Wohnraum schafft. Bewusst hat das Kulturhaup­tstadtbüro im Ihme-zentrum seinen Sitz, ein Hochhausko­mplex in zentraler Lage, der über Jahrzehnte vernachläs­sigt wurde und nun durch kulturelle Aktivitäte­n zum Beispiel für eine positive Transforma­tion werden soll. Das als langweilig geltende Hannover kann bei seinen Bürgern zudem mit der Eilenriede punkten, dem größten innerstädt­ischen Wald in einer europäisch­en Großstadt. Mit dem Sprengel Museum, dem Deutschen Museum für Karikatur und Zeichenkun­st, dem Landesmuse­um, dem Jazzclub, mehreren Theatern und der Oper gibt es kulturelle Einrichtun­gen von Bedeutung, die sich mehr Beachtung erwarten.

Neben einer größeren Wahrnehmun­g im In- und Ausland hoffen die Bewerber auf mehr Geld: 35 Millionen Euro sollen durch den Titelgewin­n vom Bund zur Umsetzung der Projektide­en fließen, weitere bis zu 45 Millionen Euro werden vom jeweiligen Bundesland sowie aus dem Haushalt der Gewinnerst­adt erwartet. Und nebenbei wird die Bewerbung genutzt, um das nicht selten negative Bild der Bürger von ihrer Stadt zu verbessern.

Sind das realistisc­he Erwartunge­n? Aus Sicht von Katarzyna Mlynczak-sachs schon. Sie war die verantwort­liche Kulturmana­gerin im polnischen Breslau/wroclaw, der europäisch­en Kulturhaup­tstadt 2016. Damals kamen statt der erwarteten drei Millionen Gäste 5,2 Millionen Besucher. „Wir konnten elf Kultureinr­ichtungen wie Konzerthal­le, Theater und Museen modernisie­ren oder neu errichten. Und wir haben Möglichkei­ten geschaffen, dass die Bewohner selber kulturell aktiver wurden. Durch die vielen Besucher sind die Bürger offener für Neues geworden und identifizi­eren sich mit Breslau viel stärker.“

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Foto: dpa Nürnberg: ein Blick auf die Burg und die Altstadt.
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Foto: dpa Chemnitz: Kopfstand in der Innenstadt.
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Foto: stock.adobe.com Magdeburg: Der Dom überragt alles.
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Foto: dpa Hildesheim: die 1000‰Jährige Rose am Dom.
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Foto: Hannover Tourismus Hannover: der alte Holzmarkt.

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