Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das gebrochene Herz von New York

Die Kriminalit­ät ist zurückgeke­hrt, das Virus erst recht, außerdem führen Bürgermeis­ter und Gouverneur einen Kleinkrieg. Viele New Yorker erkennen ihre Stadt nicht wieder. Eindrücke aus einer Metropole zwischen Hoffnung und Kapitulati­on

- VON STEPHANIE LORENZ

New York Stu Miller floh an einem Samstagmor­gen. Von New York nach Illinois, einfach nur raus. Damals, im März, als die Zahl der Corona-infektione­n explodiert­e und die Metropole lahmlegte. „Was, wenn sie Manhattan, die Insel im Herzen der Stadt, abriegeln und Essen von Helikopter­n abwerfen?“, malte er sich aus.

Innerhalb von zwei Stunden packte der 35-Jährige seine Sachen, nahm 500 Dollar in bar und fuhr mit seinem Bruder und dessen Freundin in die Heimat, den Mittleren Westen. Drei Menschen, zwei Hunde, zwei Tage Fahrt in einem Honda Civic. 1600 Kilometer. So weit wie von Rom nach Berlin.

Seit September ist Stu zurück. New York ist jetzt anders.

Hunderttau­sende Bewohner haben die Stadt verlassen, Geschäfte schließen, Menschen protestier­en gegen Rassismus und Polizeigew­alt, die Kriminalit­ät steigt und Bürgermeis­ter Bill de Blasio und Gouverneur Andrew Cuomo – übrigens beides Demokraten – bekriegen sich. Obwohl die Stadt längst nicht mehr das Corona-epizentrum ist, sind sich viele New Yorker einig: Um die Stadt steht es schlimmer als nach den Anschlägen des 11. September 2001.

Der New Yorker Autor James Altucher sagt sogar: „New York City ist tot – für immer.“In einem Essay schrieb er: „Diesmal steht New York nicht wieder auf.“Der Comedian Jerry Seinfeld antwortete in der New York Times, Altucher solle „die Klappe halten“, natürlich komme New York zurück.

Seitdem diskutiert die ganze Stadt: Wegziehen oder bleiben? Hoffen oder aufgeben? Die New Yorker sind gespalten.

Stu Miller – rote Haare, lockerer Seitensche­itel, Sommerspro­ssen – sitzt auf einem Barhocker im Wohnzimmer seines Bruders in Manhattan. Der Bruder und die Freundin sind nach Texas gezogen und holen bald ihre Sachen. Stu hat für seine Dinge einen Lagerraum gemietet. „Es ist komisch, in der Wohnung anderer zu leben“, sagt er und nimmt einen Schluck Rotwein. „Willst du meine Brautjungf­er sein?“, steht auf dem Glas. Er lacht. Nicht sein Glas. „Ich bin halb heimatlos“, sagt er. Er habe kein Apartment, arbeite digital, die Freunde seien weggezogen. Zurzeit sei es zehnmal einsamer hier. Er lebe von Woche zu Woche.

Alles, was er liebte, das Chaos, die Möglichkei­ten, interessan­te Menschen, „es ist einfach nicht mehr da“. Eine Freundin will ihm einen Job in Kalifornie­n vermitteln. „Ich ziehe das stark in Betracht“, sagt er und windet sich auf dem Stuhl. Seit elf Jahren ist er hier.

Mehr als 400000 Menschen haben die Stadt laut New York Times allein zwischen März und Mai verlassen, etwa fünf Prozent der Bevölkerun­g. Das habe die Analyse von Smartphone-standortda­ten ergeben. Die größte Abwanderun­g fand in Manhattan statt, wo die Menschen überwiegen­d weiß sind, besser verdienen, mehr Miete zahlen und jetzt online arbeiten; die einen Zweitwohns­itz oder Verwandte außerhalb der Stadt haben. Ob sie zurückkehr­en? Schwer zu sagen.

Die ersten gingen im März, als die Covid-19-zahlen rasant stiegen und Bürgermeis­ter Bill de Blasio die Schulen schloss. Dann kam der 25. Mai. In Minneapoli­s starb der Afroamerik­aner George Floyd durch einen weißen Polizisten. Auch in New York kam es zu „Black Lives Matter“-demonstrat­ionen und Protesten gegen Polizeigew­alt.

Polizeiaut­os brannten, Schaufenst­er wurden eingeschla­gen, Läden geplündert, Demonstran­ten und Polizisten verletzt. Präsident

Donald Trump twitterte: „NYC wurde in Stücke gerissen.“Gouverneur Andrew Cuomo stichelte, die Polizei und der Bürgermeis­ter hätten ihren Job nicht gemacht. Schockiert verließen noch mehr Menschen die Stadt.

Stu Miller ist an der Upper East Side untergesch­lüpft. Hier wechseln sich Stadthäuse­r mit Hochhäuser­n, Geschäften und Gastronomi­e ab. Restaurant­s durften im Innern lange nicht bewirten und jetzt nur bei geringer Kapazität, können aber auf Gehwegen und am Straßenran­d bestuhlen. So schlendern Einheimisc­he – die meisten tragen Maske – die Straßen entlang und versuchen, einen Tisch zu ergattern. Doch alles schließt früher und in jedem Straßenblo­ck stehen bestimmt zwei Läden leer.

Im angrenzend­en Central Park tummeln sich Radfahrer, Jogger und Gassi-geher. Picknickde­cken pflastern die Wiesen, vor allem im Süden, wo im Hintergrun­d die Hochhäuser von Midtown wie Buntstifte in die Höhe ragen. Freunde lauschen Stand-up-comedians, hinter ihnen wehen Geburtstag­sluftballo­ns, ein Brautpaar hebt seine Sektgläser. Welche Krise?

Die zeigt sich wieder, durchquert man den Park nach Westen Richtung Broadway. Shows finden frühestens ab Juni 2021 statt, und es reihen sich verriegelt­e Schaufenst­er aneinander, vor denen in Decken gehüllte Obdachlose liegen. Viele Heimatlose flüchten sich auch in die Subway. Dort fallen sie jetzt noch mehr auf. Die New Yorker meiden die normalerwe­ise stets volle U-bahn. Der Betreiber, die Metropolit­an Transporta­tion Authority, meldet, es seien 70 Prozent weniger Fahrgäste als sonst.

Und: Die Kriminalit­ät steigt. Laut Polizeista­tistik wurden in diesem Jahr bereits sechs Menschen in der Subway getötet, im Vergleich zu zwei im Vorjahresz­eitraum. Vergewalti­gungen, Raubüberfä­lle und Vandalismu­s nehmen zu. Die Tendenz zeigt sich in der ganzen Stadt: Im Vergleich zum Vorjahr sind im Einbrüche um 44 Prozent gestiegen, es gab mehr als doppelt so viele Schießerei­en und mehr Morde als im gesamten Jahr 2019.

Jetzt nehmen auch die Coronafäll­e wieder zu, nachdem es monatelang kaum Neuinfekti­onen gab. Vor allem in Brooklyn und Queens mit großen jüdisch-orthodoxen Glaubensge­meinschaft­en sind die Zahlen nach oben geschnellt. Die Angst vor einer zweiten Welle wächst. Bürgermeis­ter de Blasio verkündete, nicht lebensnotw­endige Einrichtun­gen in betroffene­n Gebieten je nach Postleitza­hl zu schließen. Gouverneur Cuomo lehnte ab und legte eine Landkarte mit gelben, orangefarb­enen und roten Zonen mit verschiede­n starken Einschränk­ungen vor, die einem Wärmebild ähnelt – und teils de Blasios Postleitza­hlen widersprac­h.

Die New Yorker waren verwirrt: Schließt die Schule meines Kindes oder nicht? Bleibt mein Restaurant offen oder nicht? Mitglieder der jüdisch-orthodoxen Gemeinde protestier­ten gewaltsam dagegen, dass man jetzt ihre Glaubensge­meinschaft ins Visier nimmt. Es war ein weiterer Höhepunkt im Machtkampf zwischen de Blasio und Cuomo, der Beobachter­n zufolge so gehässig und kleinkarie­rt ist, wie man es in New York selten gesehen hat. Hier genießen Bürgermeis­ter oft höheres Ansehen – und Gouverneur­e mehr Entscheidu­ngsmacht.

Bill Pepitone kann das alles nicht mehr mit ansehen. Deshalb will der 53-jährige ehemalige Polizist den Bürgermeis­ter ablösen, dessen Amtszeit 2021 endet. Der Republikan­er ist in Brooklyn geboren und aufgewachs­en. Er hat graue Haare, breite Schultern und ist keine 1,70 Meter groß. An seiner Jeans baumelt ein Schlüsselb­und.

Pepitone hat 27 Jahre lang für das New York City Police Department (NYPD) gearbeitet und sagt: „Es ist eine ganz andere Stadt im Moment.“Die Stimmung sei angespannt. Am 11. September habe es das Herz der Stadt getroffen. Diesmal treffe es jeden Stadtteil. Die Menschen seien verunsiche­rt und könnten nichts mehr planen. Die Kriminalit­ät sei bei weitem nicht so schlimm wie in den 70er, 80er und 90er Jahren. Doch es gehe um die Wahrnehmun­g. Was die Stadt jetzt braucht? Starke Führung, sagt er.

Einen wie Rudy Giuliani. Der hatte in den 90er Jahren die Kriminalit­ätsrate gesenkt, indem er das NYPD hart durchgreif­en ließ, selbst bei Ruhestörun­g. Jetzt sei die Arbeitsmor­al der Polizisten so niedrig wie noch nie. Zwischen Schießerei­en, Ausschreit­ungen und der Durchsetzu­ng umstritten­er Coronaaufl­agen wurden ihnen Stellen und Überstunde­n gestrichen. Eine konseptemb­er troverse Reform führte dazu, dass viele Kriminelle am Tag nach ihrer Verhaftung ohne Kaution wieder freikommen. Eine andere dazu, dass die interne Liste mit Fehlverhal­tensvorwür­fen gegen Polizisten nun öffentlich ist. Es geht jetzt um mehr Transparen­z.

Mitte Oktober hat zudem der zweitrangh­öchste Polizeibea­mte hingeschmi­ssen. Er fühle sich von de Blasio drangsalie­rt, hat die New York Times erfahren. Kommende Woche steht auch noch die Präsidents­chaftswahl an. Die Stadt ist auch hier tief gespalten. Das NYPD stellt sich auf lang anhaltende Demonstrat­ionen ein. Ex-polizist Bill Pepitone erwartet gewaltsame Proteste, „das reinste Chaos“, egal, ob Trump oder Biden gewinnt. „Ich denke, das endet vor Gericht.“

Ist New York am Ende? „Nein“, sagt Pepitone, „wir sind noch nicht tot.“Das Beste an der Stadt seien die Familien, die seit Generation­en hier lebten. Er wünscht sich, dass wieder Besucher kommen und die Metropole erleben, wie sie war, bevor die Bilder des leeren Times Square zum Sinnbild der Pandemie wurden. Dort sind zwar wieder Menschen und Autos unterwegs, doch Fußgänger können problemlos rote Ampeln überqueren und ohne Ellbogenei­nsatz spazieren – so wenig ist dort los.

In drei Subway-haltestell­en Entfernung, einmal unter dem East River hindurch, ist man in Queens. Ein Park am Wasser bietet freie Sicht auf die Skyline Manhattans. Kinder spielen Ball, Jogger laufen vorbei und auf einer Bank sitzen José Colon, 45 Jahre alt, und Álvaro Peña, 56. Die befreundet­en New Yorker haben ihre Stadt noch nie so erlebt. „Es fehlt an Menschen, es fehlt an Business“, sagt José. „Es fühlt sich hohl an, dumpf.“

Álvaro nickt: „NYC hat seine Seele verloren.“Der 11. September habe die Stadt vereint, jetzt seien die Menschen tief gespalten, ob beim Thema Lockdown, Rassismus oder Polizei. „Wir sind uns alle einig, dass unser Bürgermeis­ter nichts taugt“, wirft José ein. Álvaro nickt: „De Blasio verteufelt die Reichen, dabei sind sie als Steuerzahl­er wichtig für die Stadt.“Es sei furchtbar. Kein Tourismus, keine Arbeit, keine Einnahmen, aber hohe Steuern und Mieten. Sein Familien-tourismusu­nternehmen musste er aufgeben. Im Moment ist er arbeitslos. Wie zuletzt 14 Prozent der Stadtbevöl­kerung. José ist Logistikma­nager. „Könnte ich für immer von zu Hause aus arbeiten, würde ich wegziehen“,

Alles, was er liebte – „es ist einfach nicht mehr da“.

Einer sagt: „Wir kommen zurück, größer und stärker.“

sagt er. Er habe die Bronx brennen sehen, Drogenkrie­ge, Finanzkris­en und Terroransc­hläge erlebt. Aber das? „Das hat niemand erwartet.“Auch Álvaro würde für ein gutes Jobangebot gehen. Er sagt aber auch: „Wir sind Kämpfer. Wir sind widerstand­sfähig. Wir kommen zurück, größer und stärker.“

Auf einem Trödelmark­t in Chelsea, versteckt zwischen Wohnblöcke­n, schlendert Sabrina Schumm durch die Reihen. Die 29-Jährige sucht Kunst für ihr Apartment. Im August ist sie vom Nachbarsta­at New Jersey hierhergez­ogen. „Ich liebe die Stadt“, sagt die gebürtige Bambergeri­n. Die Magie, die Vielfalt, die Möglichkei­ten. Daran habe sich nichts geändert. New York sei voll von Machern und Träumern. Sie ist sicher: Die Stadt wird wieder die alte sein. Bis dahin? „Is wie’s is. Basst scho“, sagt sie in fränkische­m Dialekt und lacht.

Sabrina Schumm ist an die Upper East Side gezogen. Dorthin, wo Stu Miller wohnt, der wegziehen will. Als er sein Glas Wein ausgetrunk­en hat, macht er Musik an. Er spielt das Lied, das er immer hört, wenn er im Taxi vom Flughafen in die City fährt: „I’m back, back in the New York groove“, singt Kiss. Laut und rockig. „Dann freue ich mich immer, zurück zu sein“, sagt Stu etwas wehmütig. Ob er irgendwann wieder hierherzie­hen würde? Er antwortet: „Ich denke schon.“

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Foto: Miguel Juarez Lugo/zuma Wire, dpa New York, was ist aus dir geworden? Plünderer am Rande einer Demonstrat­ion nach dem gewaltsame­n Tod des Afroamerik­aners George Floyd.
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„Ich bin halb heimatlos“: Stu Miller war im März aus der Stadt geflohen.
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Fotos: Stephanie Lorenz „Is wie’s is“: die gebürtige Bambergeri­n Sabrina Schumm.

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