Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wie Coronaregeln Familien spalten
Gesellschaft Die Kontaktbeschränkungen treffen Familien besonders schwer. Plötzlich Oma und Opa weniger sehen? Damit hadern einige. Patchworkfamilien haben nun noch andere Probleme
Augsburg Abstand halten, Kontakte reduzieren, auf Umarmungen verzichten – mit diesen Regeln tun sich besonders Familien schwer. In den vergangenen Monaten mussten die meisten Familien für sich elementare Fragen klären. Etwa: Können wir Oma und Opa in Corona-zeiten überhaupt noch besuchen? Was ist wichtiger, die körperliche oder die seelische Gesundheit? Umarmen wir uns noch oder lieber nicht? Zeige ich Liebe, indem ich ein Familienmitglied durch Distanz schütze oder indem ich es treffe?
Und nun, da wieder ein Lockdown stattfindet, die Regeln verschärft wurden und die Infektionszahlen steigen, müssen wieder neue Fragen geklärt, neue Entscheidungen getroffen werden. Oma und Opa zu besuchen, ist nach wie vor nicht verboten (zwei Hausstände mit maximal zehn Personen dürfen sich gleichzeitig treffen), – aber kann man das in diesen Zeiten mit einem guten Gefühl tun? Die Bundesregierung empfiehlt, persönliche Treffen mit Familie und Freunden einzuschränken – und besonders Kontakt zu Risikogruppen zu meiden, zu denen Senioren wegen ihres Alters gehören. „Ziel unserer Regeln ist, unnötige Kontakte zu vermeiden und insbesondere ältere Menschen vor einer Infektion zu schützen. Es ist also schon allein ein Gebot der Vernunft, dass Treffen von zwei Hausständen nur einmal am Tag stattfinden – und auch das nur dann, wenn es wirklich wichtig ist“, sagt ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums.
Es gibt nun zwei Lager: Da sind die Familien, die zu anderen, haushaltsfernen Familienmitgliedern sicherheitshalber auf Abstand gehen, und solche, die auch in Pandemiezeiten nichts im Umgang mit Oma, Opa, Tante, Onkel ändern (möchten). Das wird auch unter einem Facebook-aufruf unserer Zeitung deutlich, in dem wir Leserinnen und Leser gebeten haben, vom Familienleben in Corona-zeiten zu berichten (Reaktionen siehe Infokasten).
„Der Mensch ist ein soziales Wesen, wir brauchen einfach soziale Kontakte“, sagt Frank Niklas, Professor für pädagogische Psychologie und Familienforschung an der Ludwig-maximilians-universität München. Familie ist im Grunde genommen Kontakt de luxe. Alles, was die Familie betrifft, trifft schnell ins Herz und kann daher auch wehtun. Schließlich handelt es sich um geliebte Menschen, mit denen man mitfühlt. Das liegt an der besonderen Bindung, weiß Frank Niklas. „Heutige Großeltern verbringen so viel Zeit mit ihren Enkeln wie keine Großelterngeneration zuvor.“Das hänge auch damit zusammen, dass sie älter werden und länger aktiv sind. Niklas zitiert Studien, wonach 95 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 15 Jahren noch mindestens einen Großelternteil und mehr als ein Drittel der Kinder täglich Kontakt zu einem Großelternteil haben. Oma und Opa sind wichtige Bezugspersonen geworden. Und das macht die Sache in Corona-zeiten besonders kompliziert. Liebe, Zuneigung, Zuwendung birgt plötzlich ein Risiko, den geliebten Menschen anzustecken und gar zu gefährden.
Eine perfekte Lösung gibt es nicht. „Das muss jede Familie für sich entscheiden, welche Prioritäten sie setzen, welches Risiko sie einzugehen bereit ist“, sagt Professor Niklas. Wichtig sei es, offen miteinander über die Situation zu sprechen, Wünsche und Sorgen zu äußern, nichts zu erzwingen.
Niklas weiß auch, dass einige Familien durch das Regelraster fallen, das von der Regierung für die Ottonormal-familien geschneidert wurde. Zahlreiche Patchworkfamilien etwa haben gerade Probleme mit der Zwei-hausstands-regel. Besucht ein Kind am Wochenende etwa seinen Vater, gilt es laut Gesundheitsministerium als eigener Hausstand. Heißt: Ein Spaziergang mit Vater und Oma wäre demnach nicht erlaubt, weil sich im Moment nur maximal zwei Hausstände treffen dürfen. Geschwister, die in drei verschiedenen Haushalten leben, dürfen nicht miteinander spielen. „Wenn sie durchs Raster fallen, wird es für manche Familien schwierig, die Regeln einzuhalten. Dann steigt der Frust“, sagt Niklas und spricht sich für mehr Sonderregelungen aus.
Viele Patchworkfamilien kämpfen in Corona-zeiten mit einem noch größeren Dilemma. Kommt das Kind zum Umgang in die andere Familie, besteht jedes Mal bei so einem Besuch ein erhöhtes Infektionsrisiko. Schutz ist in diesem Fall unmöglich. Denn das Kind in Corona-zeiten gar nicht zu treffen oder nicht zu umarmen – diese Frage stellt sich gar nicht erst.