Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Augsburg im Corona-fokus

Augsburg ist Corona-spitzenrei­ter und die Stadtregie­rung in Erklärungs­nöten. Nur: Sie hat keine Antworten und auch Fehler gemacht. Die Schuld nur bei der Politik zu suchen, wäre dennoch falsch

- VON NICOLE PRESTLE nip@augsburger‰allgemeine.de

Über allem steht die Frage nach dem Warum. Wie konnte sich Augsburg zu dem deutschen Corona-hotspot entwickeln, wo es die erste Welle nahezu unbeschade­t überstand? Die Bürger erwarten eine Antwort, doch weder die Mediziner der Uniklinik noch Oberbürger­meisterin Eva Weber (CSU) können sie geben. Alle Erklärungs­versuche sind nur Vermutunge­n und das ist in ganz Deutschlan­d nicht anders. Dennoch gerät das Krisenmana­gement der Augsburger Stadtregie­rung mehr und mehr in die Kritik.

Das könnte an der Präsenz der Führungssp­itze liegen. Wer sich ans Frühjahr erinnert und an die erste Welle (die im Rückblick ja eher ein Kräuseln der Oberfläche war), hat vielleicht noch die regelmäßig­en Livestream­s im Kopf. Per Video wurden Bürger zugeschalt­et, wenn OB Kurt Gribl (CSU) neue Entwicklun­gen bekannt gab. Ein Novum in der Kommunikat­ionsstrate­gie der Stadt, die sich vorher weitgehend darauf beschränkt hatte, Pressekonf­erenzen zu geben und auf die Funktion von Multiplika­toren zu setzen. Diese neue Form des Austausche­s und ihre Häufigkeit maß dem Thema Corona erst seine Brisanz zu – obwohl da noch kaum jemand den Begriff der Sieben-tage-inzidenz kannte.

Jetzt, da die Zahl der Coronaneui­nfektionen in Augsburg auf einem Höchststan­d ist, ist von dieser Schlagzahl nichts mehr zu spüren. Bis auf eine Pressekonf­erenz vorletzten Donnerstag gab es so gut wie keine offizielle­n Live-übertragun­gen aus Reihen der Regierung, allenfalls kurze persönlich­e Videobotsc­haften von OB Weber über Social Media. Für viele liegt da ein Rückschlus­s nahe: „Die Oberbürger­meisterin macht sich rar“. Dass hinter den Kulissen Nächte zum Tag werden und Weber ebenso wie die Referenten rund um die Uhr in Krisenstäb­en tagen, nimmt „draußen“ja kaum einer wahr. Die Bürger wünschen sich eine Oberbürger­meisterin, die in der Krise offensiv auftritt und so zeigt, dass sie das Heft in der Hand hält.

Es wurden ja auch Entscheidu­ngen getroffen. Die einer Maskenpfli­cht erst in der Innenstadt und dann in großen Teilen Augsburgs. Die über eine Absage des Christkind­lesmarkts, der Grindtec und anderer Events. Immer aber ging diesen Beschlüsse­n ein Zaudern voran, ein Ja, Vielleicht, Unter Umständen – meist so lange, bis die Entscheidu­ng in München oder Berlin gefallen war und Augsburg nur noch mitziehen musste.

Die Augsburger Stadtregie­rung will ihren Bürgern so viel Normalität wie möglich schenken – deshalb gab es einen Plärrer light und eine abgespeckt­e Dult –, aber die Politiker bieten offene Flanken. Während Berchtesga­den bereits bei einer Sieben-tage-inzidenz von 250 den zweiten Lockdown verhängte – inklusive einer Schließung von Schulen und Kitas – beschränkt­e man sich hier noch auf Warnungen. Erst als ganz Deutschlan­d herunterfu­hr, schloss man sich in Augsburg an. Dass die Einschränz­eichen kungen wegen der hohen Infektions­zahlen drei (!) Tage vorher in Kraft traten als im Rest der Republik, wirkte eher bemüht als entschloss­en.

Die größte Angriffsfl­äche aber bietet das Gesundheit­smanagemen­t im Referat von Reiner Erben (Grüne). Ausgerechn­et in der Hochphase der Pandemie wird dort eine neue Software eingeführt, was am Donnerstag dazu führte, dass die Sieben-tage-inzidenz von über 350 auf 319 sank. Wer sich schon über eine mögliche Entspannun­g gefreut hatte, musste bis zum Schluss der Mitteilung lesen, um mehr zu erfahren: Der Rückgang sei, so Erben, „leider noch kein dafür, dass die Neuinfekti­onen in Augsburg auch tatsächlic­h zurückgehe­n“. Man habe aufgrund der Edv-umstellung nur nicht alle erfassen können. Die Frage, warum angeblich alle neuen Fälle bekannt sind, sie aber nicht zusammenge­zählt werden können, um den korrekten Inzidenzwe­rt zu errechnen, blieb Erben den Bürgern schuldig. Dabei bräuchten wir alle gerade verlässlic­he Fakten.

Doch wer die „Schuld“nur bei der Stadtregie­rung sucht, macht es sich zu einfach. Wenn Augsburger bei Händlern anrufen, um sich zu erkundigen, ob denn die Geschäfte geöffnet haben, wenn Mütter erst nach drei Tagen bemerken, dass in den Schulen ihrer Kinder Maskenpfli­cht gilt, wenn hier noch immer Familienfe­iern mit über 150 Leuten stattfinde­n, dann scheint auch im Krisenmana­gement der Gesellscha­ft vieles schief zu laufen. Das trifft nicht auf die Mehrheit der Bürger zu, offenbar aber doch auf einen beträchtli­chen Teil. Viele Informatio­nen, die Stadt, Land und Bund ausgeben, kommen im Alltag einiger nicht mehr an. Vielleicht, weil in ihren sozialen Netzwerken nicht der „richtige“Algorithmu­s hinterlegt ist. Vielleicht, weil sie nicht so gut Deutsch sprechen, um sich informiere­n zu können. Vielleicht

aber auch, weil viele nur noch in ihrer eigenen Blase leben und alles andere ignorieren. Wer sich nicht informiere­n möchte, darf die Schuld daran aber nicht bei anderen suchen.

Wie man die Informatio­n an die Menschen bringt, ist das eine Problem dieser Krise, wie Entscheidu­ngen angenommen werden, das andere. Oberbürger­meisterin Weber muss sich derzeit viele Vorwürfe anhören. Sie müsste es auch, hätte sie jede ihrer Entscheidu­ngen diametral anders getroffen. Denn das ist eine Erkenntnis aus der Krise: Egal, wie man es macht – für irgendjema­nden ist es immer falsch.

Wo die größte Angriffsfl­äche bei der Stadt liegt

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Foto: Silvio Wyszengrad Die Zahl der Corona‰infektione­n ist in Augsburg besonders hoch. Mit den Maßnahmen der Stadtregie­rung sind viele Bürger unzufriede­n.
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