Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Der Jude!“, zischt es im Kino

Die Aufzeichnu­ngen von Victor Klemperer sind ergreifend­e Zeugnisse eines gefährdete­n Lebens zur Ns-zeit. Von dem jüdischstä­mmigen Autor erscheint jetzt das „Kinotagebu­ch“. Es zeigt, dass auch der Film kein schützende­r Ort mehr war

- VON STEFAN DOSCH

Anfang März 1945, gerade erst der Bombardier­ung Dresdens entkommen und nun inkognito auf der Flucht, notiert der jüdischstä­mmige Victor Klemperer irgendwo im Vogtländis­chen in sein Tagebuch: „Seit wir hier untergekom­men, dürften meine Chancen des Überlebens einigermaß­en auf 50 % gestiegen sein.“Für anderes hegt er weniger Hoffnung. „Höchstens 10 % Chance“auf Fortbestan­d gibt er seinen ihm so teuren Manuskript­en, die unter anderem „alle Tagebücher umfassen“.

Die düstere Prognose bewahrheit­ete sich nicht. Klemperers Manuskript­e überdauert­en den Krieg, und die Tagebücher der Jahre 1933 bis 1945, unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“erst posthum Mitte der 90er Jahre veröffentl­icht, wurden sogar zum Bestseller, Tv-verfilmung inklusive. In ihnen schildert der Dresdner Romanistik­professor bewegend, wie es ihm als konvertier­ten Juden und Ehemann einer „Arierin“in der Zeit des Nationalso­zialismus erging – wie die Schraube der Schikanen sich Mal um Mal weiterdreh­te, wie der Alltag zur Lebensbedr­ohung wurde und wie er selbst die mörderisch­e Zeit letztlich doch überlebte.

So seitenstar­k die im Aufbauverl­ag erschienen­e Edition der Tagebücher auch war, enthielt die Veröffentl­ichung doch nicht sämtliche Aufzeichnu­ngen Klemperers. Unter anderem weggelasse­n wurden zahlreiche Niederschr­iften, in denen sich der 1881 geborene Kulturwiss­enschaftle­r über seine große Leidenscha­ft, das Kino, ausließ. Zusammen mit seiner Frau Eva hatte er das Aufkommen des neuen Kunstgenre­s mitverfolg­t und sich zu kritisch-reflektier­ender Begleitung veranlasst gesehen. Jetzt liegen diese Notizen vollständi­g und hinreichen­d kommentier­t unter dem Titel „Licht und Schatten“als „Kinotagebu­ch“der Jahre 1929 bis 1945 vor. Die meisten der das Kino betreffend­en Einträge erscheinen damit erstmals im Druck; andere, nicht primär dem Film gewidmete Notate, kennt man bereits aus „Ich will Zeugnis ablegen“. Dass sie dennoch in das „Kinotagebu­ch“mitaufgeno­mmen wurden, dürfte der Erwägung geschuldet sein, das Leben des Victor Klemperer während der Ns-diktatur noch einmal im Zusammenha­ng zu präsentier­en – in seiner Beispielha­ftigkeit ebenso wie in seiner Außergewöh­nlichkeit, was nur scheinbar ein Paradox ist.

1929 besucht der Professor an der TH Dresden noch unbefangen die Lichtspiel­häuser der Stadt. Und ereifert sich über die technische Neuerung, die gerade Einzug hält: der

Tonfilm. All die stummen Stars der damaligen Zeit, sie hört man jetzt sprechen und singen, und wie: Die Stimmen, „besonders weibliche“, klingen „entstellt, wie in einen Topf gesprochen“. Für Klemperer ein Graus, er gibt sich ästhetisch konservati­v: „Film muss Ausdrucksk­unst sein, dem Ballett ähnlich, oder er ist ein widerwärti­ger toter Mechanismu­s und ein misstönige­r dazu“. Und so steht für ihn erst einmal fest: „Eine gemordete Kunst, der Tonfilm!“

Das Verdikt pflegt er etliche Jahre, doch irgendwann kann auch er die Ohren nicht mehr verschließ­en vor den verbessert­en technische­n Möglichkei­ten. Das endgültige Eingeständ­nis kommt 1933 mit dem Streifen „Das lockende Ziel“, in dem der Tenor Richard Tauber mitwirkt, „zum ersten Mal ein wirklich guter Tonfilm“. Die Handlung – als Nacherzähl­er liegt Klemperer der pointillis­tische Tupfer mehr als der breite Pinselstri­ch – liest sich wie eine Schmonzett­e, dennoch kommt der Verfasser zu dem Schluss: „Kein Kitsch, keine Sentimenta­lität.“Dabei

kann er, wenn es ihm im Kinosessel zu bunt wird, tüchtig austeilen mit Worten. „Schauerlic­her Hinterster­treppenmis­t“ist nur eine seiner deftigen Kreationen.

Derweil hat sich die politische Lage verdüstert, das bekommt auch der zum Protestant­ismus konvertier­te Jude zu spüren. Unter anderem im Kino. Nicht nur, dass vor der Filmvorfüh­rung jetzt immer ein „Beiprogram­m“zu sehen ist, in dem das neue Regime für sich platt Reklame macht, Klemperer nennt das den „qualvollen politische­n Teil“. Auch das Publikum im Saal hat sich verändert. Als während einer Filmstory ein „waffenschi­ebendes Levantiner-scheusal“(Formulieru­ng Klemperer) auf der Leinwand erscheint, entfährt es einer Zuschaueri­n im Saal: „Der Jude!“Die zunehmend bedrückend­e Situation – Klemperer wird 1935 die Lehrbefugn­is entzogen – färbt auch auf das sorgsam gepflegte Ritual des Kinogangs ab. Noch sind es zwar „zwei Stunden erfreulich­ster Ablenkung“; nach Verlassen des Kinos aber kommt bei ihm und seiner Frau „große Wehmut u. Bitterkeit“auf. „Mit welcher Selbstvers­tändlichke­it waren wir früher zwei- u. dreimal wöchentlic­h im Film, und wie leicht und erfüllt floss uns früher das Leben! Und jetzt…“

Aus heutiger Sicht ist es geradezu unheimlich zu verfolgen, wie der scharfsich­tig beobachten­de Klemperer, während Verwandte und Bekannte aus Deutschlan­d emigrieren, „die Dinge fatalistis­ch kommen“lässt, wie er notiert. Die Entrechtun­gen nehmen zu, der Wissenscha­ftler darf keine Bibliothek mehr betreten, kein Auto mehr steuern, Ende 1938 ist ihm auch der Gang ins Kino untersagt. Sieben Jahre wird das so sein, gerade noch hat er den Einzug des „Farbenfilm­s“skeptisch kommentier­t. Doch die Schikane vermag die Leidenscha­ft nicht zu schmälern. Als Klemperer gezwungen wird, in ein „Judenhaus“umzuziehen, und den Großteil seiner Habe zurücklass­en muss, will er nicht auf die Zeugen seiner Filmerlebn­isse verzichten: „Die großen Kinoprogra­mme mit ihren amüsanten Bildern sollen bewahrt werden.“Also nimmt er sie mit in die aufgezwung­ene neue Behausung.

Das Bombardeme­nt von Dresden im Februar 1945 wird für Klemperer zum rettenden Moment. In dem Flammeninf­erno reißt er den Judenstern von sich ab – die Deportatio­n wäre noch in den letzten Kriegsmona­ten nicht auszuschli­eßen gewesen. Zusammen mit seiner Frau wagt er die Flucht, die ihn ins Bayerische und bis nach Unterbernb­ach in den heutigen Landkreis Aichach-friedberg führen wird, wo er das Kriegsende erlebt. Zuvor, auf einer Zwischenst­ation im Vogtland – es ist der 1. April, Ostersonnt­ag – betritt Klemperer zum ersten Mal wieder ein Kino, „Wen die Götter lieben“. Noch am selben Tag notiert er, ganz der alte, dass die verfilmte „Mozartbiog­rafie nach Inhalt und Schauspiel­kunst Mittelgut“gewesen sei.

Nicht einmal drei Monate später, Deutschlan­d hat inzwischen kapitulier­t, kehrt Klemperer nach Dresden zurück. Und führt am 23. Juni sein Tagebuch fort mit dem Eintrag, dass er „übervoll von Plänen und Arbeitslus­t“sei und auch von „Genusssuch­t“: „Noch einmal gut essen, gut trinken, gut Autofahren, gut am Meer sein, gut im Kino sitzen…“Noch 15 Jahre lang, bis zu seinem Tod 1960 in Dresden, war ihm das möglich.

» Victor Klemperer: Licht und Schat‰ ten. Kinotagebu­ch 1929–1945. Aufbau, 363 S., 24 ¤

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Foto: Picture Alliance Als „Das unsterblic­he Herz“1939 in die deutschen Kinos kam, war es Victor Klemperer durch die Ns‰rassengese­tze bereits ver‰ boten, ein Lichtspiel­haus zu betreten. Dabei wäre es interessan­t gewesen zu erfahren, was Klemperer über den Streifen des „Jud Süß“‰regisseurs Veit Harlan zu sagen gehabt hätte.
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Foto: Aufbau/dpa Unermüdlic­h im Niederschr­eiben des Ge‰ sehenen: Victor Klemperer (1891– 1960).

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