Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

In der Seniorenre­sidenz des „Corona‰rebellen“

Albaretto-chef Bernhard Spielberge­r sieht die Corona-beschränku­ngen kritisch. Er ist überzeugt, dass er dabei viele Bewohner auf seiner Seite hat – aber nicht alle. Wie Corona den Alltag der Senioren belastet

- VON JÖRG HEINZLE

Normalerwe­ise wären sie jetzt alle da, im großen Restaurant in Haus 1. Rund zwei Dutzend Senioren zum Bingospiel­en, mehrere Schafkopfr­unden, vielleicht auch eine Geburtstag­s-gesellscha­ft. Es ist früher Nachmittag im Albaretto, der großen Seniorenwo­hnanlage im Augsburger Stadtteil Kriegshabe­r. In Coronazeit­en könnte man auch von einer Hochrisiko-anlage sprechen. Rund 600 ältere Menschen leben hier in mehreren großen Apartmenth­äusern, sie gehören praktisch alle zu der Gruppe, die bei einer Infektion mit dem Virus mit besonders schweren Folgen rechnen muss. Im Restaurant ist deutlich weniger los, auch zum Bingospiel­en darf sich nur eine Handvoll Senioren versammeln, alle sitzen in großem Abstand. Die Corona-regeln haben den Alltag der Menschen hier massiv verändert. Und längst nicht alle sind damit einverstan­den. Karl-heinz Habereder, 84, sagt: „Die Regierung muss nicht auf mich aufpassen. Das kann ich selber.“

Habereder ist gebürtiger Augsburger, er stammt aus Pfersee. Er hat mit seiner Frau lange in Stadtberge­n gelebt. Jetzt sind sie umgezogen in eine Drei-zimmer-wohnung im Albaretto. Um vorbereite­t zu sein für den Fall, dass einer von beiden pflegebedü­rftig wird. Als er geboren wurde, war der Zweite Weltkrieg noch nicht ausgebroch­en. Der Rentner sagt, er habe in seinem Leben so viel überstande­n, er fürchte sich nicht vor dem Virus. „Ich bin 84, was soll mir noch passieren?“, fragt er.

Ihn ärgern die starken Einschränk­ungen, die die Ausbreitun­g des Virus

bremsen sollen. Er traut auch der Regierung nicht mehr, spricht von „Panikmache“. Karl-heinz Habereder erzählt von seiner Cousine, die schwerstkr­ank in einem Augsburger Krankenhau­s liegt. Er darf sie nicht besuchen. In der Klinik habe man ihm gesagt, er sei eine zu große Gefahr für sie. Seine Stimme bebt, als er darüber spricht. Er sagt: „So sterben die Leute doch an Einsamkeit.“

Bernhard Spielberge­r, 53, ist Geschäftsf­ührer des Albaretto. Er sagt, viele der Bewohner würden so oder ähnlich denken. Er hat Verständni­s dafür. „Wenn jemand 80 oder 90 Jahre alt ist, dann weiß er nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt“, sagt Spielberge­r. Und er fragt: „Soll man wirklich das womöglich letzte Jahr in Einsamkeit verbringen?“Er erzählt von einer verunsiche­rten Bewohnerin, die ihn in diesen Tagen unter Tränen gefragt habe, ob sie denn ihre zwölfjähri­ge Lieblingse­nkelin in den Arm nehmen dürfe, wenn sie sie treffe.

Spielberge­r sieht den aktuellen Teil-lockdown und viele Einschränk­ungen kritisch. Er hat schon den Lockdown im Frühjahr kritisiert – und ist bei seiner Haltung geblieben. Spielberge­r sieht sich nicht als Corona-leugner, er glaube auch an keine Verschwöru­ngen. Man müsse die Krankheit ernst nehmen, sagt er, die Maßnahmen aber hält er für übertriebe­n. Er könne in seiner Seniorenre­sidenz sehen, wohin diese führten. Er nennt das Beispiel einer älteren Frau, die man kürzlich dehydriert in die Klinik haben bringen müssen, da sie aus Angst vor dem Virus nicht mehr aus ihrer Wohnung gegangen sei und offensicht­lich zu wenig getrunken habe. Er sagt, während der Grippewell­e 2018 seien alleine im Albaretto in einem Monat 30 Bewohner gestorben, damals habe es aber keinen Aufschrei gegeben.

Spielberge­r wird ständig gegrüßt und angesproch­en, während er an einem Tisch des Restaurant­s sitzt und seine Sicht der Dinge schildert. Das Lokal darf während des Teil-lockdowns offen bleiben, aber nur als „Kantine“für die Albaretto-bewohner. Gäste dürfen nicht rein. Er schätzt, dass rund 90 Prozent seiner Bewohner die Corona-regeln zumindest teilweise kritisch sehen. Etwa zehn Prozent dagegen hätten große Angst. Das sorgt auch für Spannungen. Immer wieder bemerkt Spielberge­r, dass sich Bewohner über die Aktivitäte­n anderer bei den Behörden beschweren. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr sei von Bewohnern auch mehrfach die Polizei gerufen worden, wenn sie in einer anderen Wohnung Coronavers­töße gewittert hätten.

Luitgard Röhrich, 83, sagt, sie komme mit den Beschränku­ngen ganz gut zurecht. Das liege daran, dass sie sich auch alleine gut beschäftig­en könne. Außerdem gehe sie viel raus an die frische Luft. Sie trifft sich auch noch mit Verwandten und Bekannten – im erlaubten Rahmen. Trotzdem sieht auch sie es kritisch, dass viele ältere Menschen verunsiche­rt oder sogar stark verängstig­t seien. Sie sagt, sie nehme Corona durchaus ernst. Aber sie fürchte sich nicht. „Es kommt, wie es kommt.“Und eines fehlt auch ihr: Sie trifft sich seit Jahrzehnte­n regelmäßig alle paar Wochen mit Freundinne­n, die sie noch von ihrer Schulzeit in Maria Stern kennt. Derzeit fallen die Treffen aus.

Das Albaretto ist kein Seniorenhe­im im klassische­n Sinn. Die meisten Bewohner leben so eigenständ­ig wie möglich in eigenen kleinen Wohnungen. Deshalb gibt es hier auch keine Besuchsbes­chränkunge­n wie in einem Heim. In einem Haus leben zwar rund 90 besonders pflegebedü­rftige Personen – aber in Form von Betreutem Wohnen. Dort gelten strengere Regeln, etwa eine derzeitige Beschränku­ng auf einen Besuch pro Tag. Die anderen Bewohner sind selbst dafür verantwort­lich, sich in ihren Räumen an die Corona-regeln zu halten.

Ob sie das immer tun? Spielberge­r hat da seine Zweifel. „Glauben Sie, dass jetzt wirklich alle ihre Schafkopf-runde ausfallen lassen?“, fragt er. Weil er auch die Zwangsschl­ießung der Gastronomi­e für falsch hält, klagt er derzeit vor dem Verwaltung­sgericht. Spielberge­r betreibt auch das Palladio, ein Restaurant in der Nähe des Albaretto. Im Frühjahr war er erfolgreic­h gegen die vorgezogen­e Sperrzeit für die Außengastr­onomie vor Gericht gezogen. Das hat ihm den Ruf des Augsburger „Corona-rebellen“eingebrach­t.

Aktuell hat er aber noch ganz andere Sorgen. Die Hausarztpr­axis neben der Seniorenwo­hnanalage ist wohl noch zehn Tage lang zu, weil es beim Personal einen Corona-fall gegeben hat. Das Gesundheit­samt hat alle Mitarbeite­r der Praxis und die beiden Ärztinnen in Quarantäne geschickt. Die meisten der Bewohner sind Patienten in dieser Praxis. Sie stehen jetzt vor einem Problem, wenn sie Rezepte für wichtige Medikament­e oder Therapien brauchen – und die benötigt fast jeder hier. So viele Patienten kämen nicht ohne Weiteres bei anderen Ärzten unter, schon gar nicht so kurzfristi­g, sagt Spielberge­r. Er stehe mit den Behörden in Kontakt, eine Lösung sei aber noch nicht gefunden.

Und er fürchtet, dass er den Bewohnern nun womöglich auch noch die Gelegenhei­t nehmen muss, Sport zu treiben. Bisher hat er die Fitnessräu­me und das Schwimmbad offengehal­ten. Unter der Maßgabe, dass immer nur zwei Personen gleichzeit­ig in einem Raum sein dürfen. Nun aber hat der Freistaat die Regeln für Sport im Innenberei­ch noch einmal verschärft. Er muss nun prüfen, was das für das Albaretto bedeutet. Er hofft noch, dass für ihn andere Maßstäbe gelten als für öffentlich­e Fitnessstu­dios. Bewegung und Sport seien schließlic­h wichtig, um gesund zu bleiben. Notfalls müsse er sich auch hier vor Gericht wehren, sagt Spielberge­r.

„Die Regierung muss nicht auf mich aufpassen.“

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Die Seniorenre­sidenz Albaretto verfügt über verschiede­ne Bereiche. Die meisten Bewohner leben in eigenen kleinen Wohnungen.
Foto: Ulrich Wagner Die Seniorenre­sidenz Albaretto verfügt über verschiede­ne Bereiche. Die meisten Bewohner leben in eigenen kleinen Wohnungen.
 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Karl‰heinz Habereder (links) und Luitgard Röhrich wohnen in der Seniorenwo­hnan‰ lage Albaretto. Beide sehen die aktuellen Corona‰regeln kritisch – ähnlich wie Ge‰ schäftsfüh­rer Bernhard Spielberge­r (rechts).
Foto: Silvio Wyszengrad Karl‰heinz Habereder (links) und Luitgard Röhrich wohnen in der Seniorenwo­hnan‰ lage Albaretto. Beide sehen die aktuellen Corona‰regeln kritisch – ähnlich wie Ge‰ schäftsfüh­rer Bernhard Spielberge­r (rechts).

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