Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Märchen gegen die Corona‰krise

Vor zehn Jahren erzählte J.K. Rowling ihren eigenen Kindern die Geschichte vom Ungeheuer Ickabog. In der Pandemie will sie damit für Abwechslun­g sorgen und Gutes tun

- VON BIRGIT MÜLLER‰BARDORFF

Mit Stöbern und Ausmisten vertrieben sich im Frühjahr viele Menschen im Lockdown die Zeit. Wenn eine Schriftste­llerin wie Joanne K. Rowling auf den Dachboden geht, findet sie nicht nur alten Plunder, sondern auch eine Geschichte für ein neues Buch. „Der Ickabog“ist so ein Fundstück, das nun nicht auf dem Wertstoffh­of, sondern im Buchhandel gelandet ist – und auch noch Gutes tut. Ihr Honorar stellt sie Menschen, die besonders von der Pandemie betroffen sind, zur Verfügung.

Vor rund zehn Jahren hatte die Harry-potter-schöpferin die Handlung um ein Ungeheuer namens Ickabog für ihre zwei jüngeren Kinder als Einschlafg­eschichte erfunden. Veröffentl­ichen wollte sie es damals nicht und so verräumte sie die Notizen in einer Schachtel im Dachboden. Im Frühjahr, als die Welt wegen Corona stillstand, gab die Star-autorin dem Drängen ihrer Tochter nach, die Geschichte endlich aufzuschre­iben, und veröffentl­ichte sie kapitelwei­se und frei zugänglich im Netz. Sie wolle den Familien, die jetzt zuhause säßen, ein wenig Abwechslun­g verschaffe­n, sagte sie damals und rief die Kinder zu einem Illustrati­onswettbew­erb auf. Diese Kinderbild­er finden sich in den je nach Erscheinun­gsland unterschie­dlichen 26 Buchausgab­en des „Ickabog“. Die deutsche Version enthält 34 Illustrati­onen von Sieben- bis Zwölfjähri­gen aus ganz Deutschlan­d, deren Fantasie von den detailreic­hen Schilderun­gen Rowlings beflügelt wurde.

„Es war einmal ein kleines Land, das hieß Schlaraffi­en und wurde seit Jahrhunder­ten von einer langen Reihe von Königen mit blondem Haar regiert“, beginnt das Märchen ganz klassisch. Zum ersten Mal schreibt Rowling damit nach den „Harry Potter“-bänden wieder für ein jüngeres Publikum. Zuletzt hatte sie unter dem Pseudonym Robert Galbraith eine mehrbändig­e Krimireihe veröffentl­icht. Dass auch Erwachsene sich beim Vor- und Mitlesen von „Der Ickabog“nicht langweilen werden, dafür sorgt nicht nur der süffisant-ironische Unterton, mit dem Rowling ihr bezaubernd­es Märchen würzt, sondern auch die politisch-philosophi­sche Ebene.

Schlaraffi­en ist ein glückliche­s Land, den meisten Menschen geht es gut, sie leben in Frieden und wohlgenähr­t mit köstlichen Leckereien wie Himmelshof­fnungen und Feenwiegen. Nur in den Sümpfen des Nordens, wo die Marschländ­er leben, herrscht Armut. Dort lebt der Legende nach ein Ungeheuer, von dem es heißt, dass es Kinder und Schafe frisst. „Die Gewohnheit­en und das Aussehen des Ickabog veränderte­n sich, je nachdem, wer ihn beschrieb. Manche fanden ihn schlangenä­hnlich, für andere glich er eher einem Drachen oder einem Wolf. Manche behauptete­n, er würde brüllen. Andere dagegen sagten, er fauche, und wieder andere, dass er lautlos wie der Nebel einherschw­ebte.“Eltern kommt das Ungeheuer gerade recht, wenn ihre Kinder mal wieder nicht brav sind. Doch auch die beiden Berater des Königs realisiere­n, dass sich mit der Angst vor dem Ickabog ganz gut Politik machen lässt. Aus dem zufriedene­n Schlaraffi­en wird ein geknechtet­es Land, wer sich gegen die Obrigkeit auflehnt, landet im Gefängnis oder wird umgebracht. Nur die Kinder wollen sich damit nicht abfinden – auch nicht, als der Ickabog tatsächlic­h auftaucht.

Joanne K. Rowling beschreibt einprägsam und nachvollzi­ehbar die Mechanisme­n in einer Diktatur: Wie die Angst vor dem Fremden geschürt wird, wie durch Lügen und Drohungen ein tyrannisch­es System aufgebaut wird, wie sich der Einzelne unter diesen Verhältnis­sen verändert. Dabei verlangt sie jungen Lesern einiges ab, wenn Sympathiet­räger ums Leben kommen, wenn Elend und Not anschaulic­h beschriebe­n werden. Kindgerech­t ernun zählt sie aber auch von Vertrauen, Mut und Freundscha­ft.

Es sei eine ihrer schönsten Erfahrunge­n als Schriftste­llerin gewesen, „dass ich wieder ins Königreich Schlaraffi­en zurückkehr­en und abschließe­n konnte, was ich vor so langer Zeit begonnen hatte“, schreibt die Autorin im Vorwort des Buches. Da schwingt vielleicht auch ein wenig die Erleichter­ung mit, wieder mit anderen Nachrichte­n als der ihr unterstell­ten Trans-phobie in den Schlagzeil­en zu sein. Ob „Der Ickabog“ebenso wie der im Dezember nun auch auf deutsch erscheinen­de neue Krimiband „Böses Blut“, in dem ein Mann in Frauenklei­dern vorkommt, dazu geeignet ist, den Shitstorm auf Rowling wieder zu befeuern? Nun ja, an einer Stelle fragen sich die Kinder, welches Geschlecht das Ungeheuer denn wohl hat. Die tiefe Stimme weise ja eindeutig auf einen Mann, aber der wachsende Bauch eher auf eine Frau hin. Wenn das mal nicht wieder überkommen­e Geschlecht­errollen sind!

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Foto: Dominic Lipinski, dpa Es sei eine ihrer schönsten Erfahrunge­n als Schriftste­llerin gewesen, nach zehn Jahren das Märchen „Der Ickabog“fertig zu schreiben, sagt die englische Erfolgsaut­orin Joanne K. Rowling.
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» Joanne K. Row‰ ling: Der Ickabog. Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger. Carlsen, 346 Seiten, 20 Euro – ab 8 Jah‰ ren

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